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Teil 2

Ungereimtheiten

10.11.2169, Raumstation Camp Tschao

Als die Henri Poincaré an die Station andockte, freute sich Samoka auf das Wiedersehen mit Gorl. Sie hatte ihn lange nicht gesehen, und obwohl zwischen ihnen nie etwas war, fühlte Samoka sich zu ihm hingezogen. Als sie vor der Schleuse standen, hätte Samoka eigentlich erwartet, dass Gorl sie öffnete und sie wenigstens halbwegs stürmisch begrüßte. Aber nichts dergleichen geschah. Die Schleuse ging automatisch auf und gab den Weg in das Innere von Camp Tschao frei. Gorl war nirgends zu sehen, also rief Samoka seinen Namen. Erst beim dritten Versuch erhielt sie eine Antwort. „Hier, in der Zentrale! Kommt rein!“ Irgendwie klang seine Stimme hohl und unkonzentriert. Als die Besucher die Zentrale erreichten, saß Gorl vor dem Hauptmonitor und starrte auf eine Aufnahme. Er blickte nur kurz zur Seite, ließ ein gemurmeltes „Oh Hallo“ los und starrte dann wieder auf den Monitor. Was tat er dort? Jeff wollte gerade etwas sagen, aber Samoka gab ihm ein Zeichen das nicht zu tun. Die Aufnahmen auf dem 2 Meter mal 3,50 Meter großen Monitor war rätselhaft. Sie zeigte Gorl an seinem Hypersender und plötzlich erschien geisterhaft durchscheinend ein weiterer Mann. Das Bild des Mannes flackerte, wie ein uraltes Hologramm, aber er sagte etwas. Die Sprache klang, wie das alte Englisch von der Erde und der Mann fragte „Haben Sie mich hier her gebracht?“ Gorl sah die Ankömmlinge an und zeigte auf den Bildschirm. „Er ist aufgetaucht, als ich nach unserem Gespräch ein Kontrollsignal gesendet habe.“ Samoka winkte ab und erwiderte: „Das ist doch wahrscheinlich ein Hologramm.“ Gorl schüttelte entschieden den Kopf. „Er hat mich direkt angesehen und angesprochen. Bei Hologrammen geht das nur, wenn es sowohl eine Kamera und einen Projektor gibt. Im Labor gibt es aber keinen Projektor.“ Jeff trat an die Rechnerkonsole und tippte wortlos ein paar Zahlen ein. Er checkte die Sensoren im Labor, die so ziemlich alles erfassten, was sich dort messen ließ. „Wann hast du das Kontrollsignal genau gesendet?“ fragte er Gorl. „Genau um 17:57:12h Bordzeit.“
„Das ist doch schon was! Um 17:57:13h begann sich die Magnetfeldstärke zu erhöhen. Nicht stark, aber eindeutig signifikant. Und um 17:57:31h war dann der Normalwert wieder da. Und hier, die Mikrowellenstrahlung ist im selben Zeitraum leicht abgefallen. Alle anderen Parameter sind unverändert. Es war also tatsächlich irgendwas da.“

26.09.1935, Lwowski, Polen

Brent blickte in den Hörsaal der Uniwersytet Lwowski, (Universität Lemberg). In den Rängen saßen ungefähr 40 Menschen, die ihn fasziniert ansahen. Noch faszinierter schauten sie den Computer und den Beamer an, die auf dem Podest an der Rückseite des Saales standen und mit ihrer ungewohnten Geräuschkulisse immer wieder neugierige Blicke anlockten. Brent hatte Andreij in den vergangenen Tagen die Funktionsweise des PCs und des Betriebssystems erklärt, die dieser mit bemerkenswerter Leichtigkeit verinnerlichte. Die Zuhörerschaft bestand aus ausgesuchten Wissenschaftlern und Studenten, die vor dem Treffen vom Geheimdienst genauestens durchleuchtet worden waren und dort als Grupa Przyszłość (Gruppe Zukunft) bezeichnet wurden. Jeder, der heute hier im Hörsaal saß, war zu vollkommener Verschwiegenheit verpflichtet und würde ohnehin in den nächsten Jahren nur noch auf wenige Menschen außerhalb dieses Kreises treffen.

Brent war es gewohnt, vor Studenten zu sprechen und wusste, wie man solche Auftritte recht kurzweilig gestalten konnte. Langeweile würde ohnehin niemand mehr empfinden, sobald Andreij den Beamer startete.

„Guten Morgen, ich hoffe wir können Englisch miteinander sprechen, denn wenn wir es auf Polnisch versuchen, werde ich in diesem Saal heute notgedrungen den Dummkopf spielen.” Brent lächelte die Zuhörer entwaffnend an und prüfte die Wirkung seiner Worte. Die Leute sahen ihn teils lachend, teils belustigt an und er hörte diverse Zustimmungsbekundungen in seiner Sprache. Selbstverständlich waren für den Grupa Przyszłość nur Leute ausgewählt worden, die das Englische ausreichend beherrschten. Das wusste Brent vorher. Aber die Schau-mal-ich-habe-Schwächen-Nummer schaffte fast immer Sympathie.

„Wie sie vielleicht schon gehört haben, bin ich unter recht ungewöhnlichen Umständen in ihr Land eingereist. Mein Name ist Brent Spiner, ich stamme aus England, lebe dort im Jahr 1999 und habe vor etwa einer Woche einen Meteoriten oder so was abbekommen, was mich in ihr Land und ihre Zeit geschleudert hat. Eigentlich wollte ich an diesem Tag nur von Portsmouth nach Penzance umziehen. Nun, die Reise ist halt ein wenig länger geworden.” Diesmal war das Erstaunen deutlich größer als das Gelächter.

Brent fuhr fort. „Wie ich bereits sagte, stamme ich aus unserer Zukunft, ich wurde 1953, also in 18 Jahren geboren. Ihre Zukunft ist also meine Geschichte. Und ich möchte ihnen heute gemeinsam mit meinem Freund Graf Andreij Tadicz berichten, was ihrem Land und der Welt in den kommenden Jahren bevorsteht. Andreij, bitte!”
Graf Tadicz beendete den Standby – Modus des Beamers und Adolf Hitler erschien überlebensgroß auf der Leinwand hinter Brent. Ein kollektiver Aufschrei ging durch den Saal, der wohl eher der Klarheit und Helligkeit des Bildes geschuldet war, als Hitler selbst. Trotzdem fragte Brent auf das Bild deutend:

„Fürchten Sie diesen Mann?”

Aus der Menge ertönten wenige verhaltene Ja's und viele trotzige Nein's.

„Nun”, sagte Brent deutlich ernster, „sie sollten ihn fürchten, denn er wird in vier Jahren ihr Land auslöschen!”

Brent sah in die Augen der Zuhörer hinab, die ihn jetzt einfach nur noch anstarrten. Ungläubig, teils trotzig und auch wütend trafen ihn die Blicke. Brent sagte nichts, sondern gab Andreij ein verabredetes Zeichen. Hinter Brent erschien plötzlich und unversehens eine Bombenexplosion. Er hatte mit Andreij die kleinen Multimediaboxen seines PCs durch eine abenteuerlich anmutende Konstruktion aus dem Staatstheater in Warschau ersetzt, so dass sich die Explosion mit infernalischem Krachen aus riesigen Hornlautsprechern in die Ohren der Zuhörer bohrte. Die Szene wechselte und die Zuschauer sahen, was die Bombe getroffen hatte. Die Johanniskathedrale in Warschau war allen hier bekannt. Sie brannte an mehreren Stellen. Wieder Szenenwechsel: Unter dem höllischem Pfeifen ihrer Jericho Sirenen stürzten sich deutsche JU-87 Sturzkampfbomber auf das brennende Warschau. Die Zielkamera eines Bombers zeigte den Markplatz mit den Patrizierhäusern. Kurz darauf das Pfeifen einer schweren Bombe und das Haus wie es in einer weiteren Explosion einstürzte. Die nächsten Szenen zeigten deutsche ME-109 Jäger und ME-110 Zerstörer im Verband, beim Angriff auf polnische Kavallerie. Dann tief gestaffelte Panzerverbände beim Angriff auf Radom. In der nächsten Einstellung zogen Flüchtlinge durch das Bild. Die Kamera fing das hoffnungs- und ausdruckslose Gesicht einer jungen Frau ein. Plötzlich gellte ein panischer Schrei durch den Raum. Eine Frau sprang auf, zeigte auf das Bild und schrie etwas auf Polnisch.

Sie hatte sich gerade selbst erkannt!

Am Ende Bilder des völlig zerstörten Warschau, die Ende 1943 aufgenommen worden waren. Und dann plötzlich ein hochzufriedener, lachender Hitler, der seinem Oberbefehlshaber Walther von Brauchitsch die Hand schüttelt. Das Bild stoppte und der lachende Diktator und sein General verbleiben wie eingefroren an der Wand. „Dieser Handschlag wird nur 27 Tage nach Beginn des deutschen Angriffs erfolgen. Es ist der Handschlag mit dem Hitler von Brauchitsch zum Sieg über Polen gratuliert. 27 Tage nach dem deutschen Einmarsch wird ihr Land nicht mehr existieren.”

Diesmal sah Brent bei den Zuhörern Tränen, Blicke die zu Boden gerichtet waren oder in stiller Verzweifelung auf den lachenden Diktator gerichtet waren. Brent ließ die Bilder und Worte wirken. Niemand bemerkte, dass er mit Andreij den Platz tauschte.

„Am Ende dieser Schlacht wird nicht nur Polen zerstört sein!”, rief Graf Tadicz vom Rednerpult und diesmal auf Polnisch, „sondern die halbe Welt wird gelitten haben. Mehr als 50 Millionen Menschen werden ihr Leben verlieren, davon 6 Millionen von uns. Wir haben durch ein Wunder schon jetzt von unserem Schicksal erfahren und ich sage, wir können, nein wir müssen verhindern, dass all das geschieht. Genau deshalb sind sie hier. Denn wir haben einen Trumpf, ein Ass, eine Waffe, von der die Deutschen nichts ahnen: Mr. Brent Spiner!”

Andreij erläuterte, dass Brent über umfangreiche Aufzeichnungen verfügte, die jeden Schritt der Deutschen genau beschrieben. Auch dass der Besucher aus der Zukunft Waffenkonstrukteur war und was es mit der seltsamen Maschine, die er Computer nannte auf sich hatte, ließ Andreij die Zuhörer wissen. Dann kam er auf den Plan Sanacja zu sprechen und erläuterte, wie die polnische Armee in die Lage versetzt werden sollte, die Deutschen zu schlagen.

15.09.2169, Raumstation Camp Tschao

Die letzten Tage waren ungewohnt hektisch verlaufen. Alle an Bord der Station stimmten darin überein, dass das Auftauchen des Fremden mit dem Hyperfunksender zusammenhing. Also wurde alles untersucht, was in letzter Zeit mit der neuen Technik geschehen war. Wenn der Fremde aufgrund technischer Zusammenhänge hier aufgetaucht war, dann musste es möglich sein, diesen Zustand zu wiederholen und erneut mit dem Mann in Verbindung zu treten.

Sita war es gelungen, aus der kurzen Filmsequenz eine ganze Reihe von Einzelheiten über den Fremden zu ermitteln. Kleidung, Haarschnitt, Sprechweise, die Art seiner Armbanduhr, alles deutete daraufhin, dass es sich um einen Menschen handelte der zwischen 1990 und 2005 im südlichen England auf der Erde leben musste. Vollkommen nebulös blieb allerdings, was ein 180 Jahre alter Mann von einem 3260 Lichtjahre entfernten Planeten in Gorl’s Labor verloren hatte? Zudem schien er sich auch irgendwo anders zu befinden, dann seine Frage lautete, ob Gorl ihn dorthin gebracht hätte. Was, wenn Gorls neue Technik weitere solcher Effekte auslöste? Sie mussten den Unbekannten finden und herausfinden, was mit ihm geschehen war. Jeff und Janita beschäftigten sich derweil mit dem Kontrollsignal, welches Gorl nach seinem Gespräch mit Samoka gesendet hatte. Gedro rekonstruierte währenddessen aus den durchscheinenden Filmbildern mithilfe einer Grafiksoftware das Gesicht des Mannes. Nach einigen Versuchen hatte er ein Bild, das mit einer guten Fotografie vergleichbar war. Samoka schaute das Bild an und sagte zu Gorl „Wow, nicht unattraktiv, dein Gast! Können wir das Bild zur Erde schicken und ihn dort identifizieren lassen?” Gorl nickte, lud die Grafikdatei auf eine Multisonde und schickte die in Richtung Erde an den District-Council Western Europe. Vielleicht hatten die ja Glück und fanden heraus, um wen es sich hier handelte.

Jeff Tschao-Zel, der auf elektromagnetische Signale spezialisiert war, verbrachte Stunden damit, jede Sendung, die innerhalb der letzten zwei Monate von Camp Tschao aus ins All abgestrahlt wurde zu untersuchen. Er konzentrierte sich darauf, unterschiedliche Messgrößen paarweise zu analysieren. Als er sich die Paarung Sendeenergie zu Signaldauer ansah, fiel ihm ein Signal sofort auf. Er fragte Gorl danach, der ihm bestätigte, dass es sich dabei um das Signal handelte, welches aufgrund eines Fehlers aus dem fünf- in den vierdimensionalen Raum zurückgefallen sei. „Okay“, sagte Jeff, „schauen wir uns jetzt doch mal die Aktivität der Bosonen und Fermionen zu diesem Zeitpunkt an.“ Jeff durchsuchte ein paar Dateien, bis er die Werte fand und den anderen Werten zuordnen konnte. „Bingo! Da ist ein fettes Ungleichgewicht drin. Siehst du, das Pauli – Prinzip greift mit diesen Werten nicht mehr.“ Gorl dachte eine Weile nach. Zwischenzeitlich hatte sich auch Sita und Gedro zu ihnen gesellt. „Wenn das Pauli – Prinzip ausfällt und die Zeit in der fünften Dimension durch Hyperenergie neutralisiert wurde…“, begann Gorl zu sinnieren, „…dann muss der Überschuss an Zeit und Energie auf der Fermionenseite irgendwohin verschwunden sein!“ beendete Gedro den Satz. „Und da es im Überraum keine Beeinflussung durch sonstige Kräfte gibt, muss das in genau entgegengesetzter Richtung erfolgt sein.“ brachte Sita die Überlegung zu einem vorläufigen Ende.

Gorl wandte sich an Samoka und bat sie zu ermitteln, was direkt entgegengesetzt zum Eintrittspunkt lag. Nach einer Weile rief Samoka von ihrer Konsole aus „Also da kommt erstmal eine ganze Weile gar nichts. Dann kommt allerdings der Stern Beta Gruis. Liegt exakt auf der Bahn. Das umgekehrte Signal muss genau auf den Kern getroffen sein.“ Gorl sah die anderen an und meinte „Nun, das dürfte es kaum überstanden haben.“ Samoka kam kopfschüttelnd zu ihnen herüber und fügte hinzu „Denk daran, es ist zwischen der vierten und der fünften Dimension auf den Kern getroffen. Janita und ich vermuten deshalb, dass es allein aufgrund der ungeheuren Gravitation im Kern von Beta Gruis endgültig in eine der beiden Dimensionen geschleudert wurde. Da es in der fünften nicht existent sein kann, muss es also in die vierte zurückgekommen sein.“ Janita gesellte sich nun ebenfalls zum Rest der Gruppe und führte den Gedanken fort „Ich habe gerade eine kleine Simulation berechnet. Danach war das Signal zu schnell und zu massearm, als dass der Stern es hätte festhalten können. Er hat es stattdessen abgelenkt. Wenn man die Massedaten, die Geschwindigkeit der Eigendrehung und die Druckverhältnisse im Kern von Beta Gruis berücksichtigt, ist das Signal weiter auf einen 271 Lichtjahre entfernten gelben Zwergstern zugeflogen. Verfeinert man die Rechnung um eine Zehnerpotenz, ergibt sich das unser Kumpel den gelben Zwerg um 150 Millionen Kilometer verfehlt hat.“ Janita sah die anderen an, die fragend zurück blickten. „Na Leute, klingelt’s?“, wollte sie wissen. „Die Erde!“, murmelte Gorl, „es hat die Erde getroffen!“ Janita klatschte in die Hände. „Exakt! Und da wir wissen, wo die Erde sich befand, können wir recht genau ermitteln, in welchen Zeiträumen das Ding zwischen 1990 und 2005 auf Südengland hätte treffen können, von wo unser Besucher vermutlich stammt. Und wenn wir das wieder zurückrechnen, können wir sogar den genauen Einschlagort bestimmen.“

Die Berechnung ergab, dass das Signal im September 1999 in der Stadt Portsmouth eingeschlagen sein musste. Eine weitere Multisonde wurde mit dieser Information Richtung Erde gesandt. Am nächsten Morgen war die Sonde wieder da und übermittelte 2 Antworten: Der Mann auf dem Bild hieß Brent Spiner und er war am 17. September 1999 bei einem Meteoriteneinschlag in der Camden Lane in Portsmouth getötet worden!

29.09.1935, Lwowski, Polen

Die Grupa Przyszłość nahm allmählich Form an. Die 47 Mitglieder zählende Gruppe hatte sich in 4 Untergruppen organisiert. Die Grupa 1 war für die Modernisierung der Luftstreitkräfte verantwortlich, Grupa 2 kümmerte sich um die Bodenstreitkräfte, Grupa 3 kümmerte sich um die polnische Marine und Sabotage und Grupa 4 beschäftigte sich mit Ausbildung, Organisation und Logistik. Brent zeigte den jeweiligen Teams Film- und Bildmaterial aus den 80er und 90er Jahren, welche Waffenentwicklungen möglich waren und um die Grenzen der Machbarkeit aufzuzeigen. Alle Teilnehmer der Grupa Przyszłość mussten sich darüber im Klaren sein, was mit den industriellen, intellektuellen und ideologischen Gegebenheiten ihres Landes und ihrer Zeit maximal erreichbar war. Ideologisch war die Lage aufgrund der verzwickten politischen Situation besonders prekär. Der eigentliche Machthaber in Polen, Marschall Józef Piłsudski war im Mai gestorben. Staatspräsident Ignacy Mościcki war bis dahin politisch eigentlich bedeutungslos, führte aber jetzt die Gruppe der Schlossisten an. Dem gegenüber stand auf Seiten der Obristen der neue Oberbefehlshaber der polnischen Streitkräfte Marschall Edward Rydz-Śmigły. Beide Männer waren hoch gebildet, Mościcki hatte Chemie studiert, während Rydz (Śmigły war nur ein zusätzliches Pseudonym) ein Philosophie- und Kunststudium vorweisen konnte. Beide Männer verachteten sich und redeten kaum miteinander.

Brent und Andreij saßen einige Tage später mit der Grupa 4 zusammen und berieten darüber, wie man Śmigły und Mościcki ins Bild setzte. Denn die beiden Machthaber in Polen wussten bislang weder von Brent’s Existenz, noch von der Bedrohung durch Nazi-Deutschland. Bislang waren alle Aktionen unter der Obhut von Graf Tadicz und dem Geheimdienst gelaufen. Würde man den beiden Machthabern auf den üblichen Wegen mitteilen, was Polen bevorstand, würde es jeder für sich sofort benutzen, um dem anderen gegenüber politische Stärke zu demonstrieren. Beide würden vollmundig zum Marsch auf Berlin blasen und womöglich mit einer berittenen Truppe in Deutschland einmarschieren. Es musste also ein anderer Weg gefunden werden, um beide Politiker zu informieren und beide im Geiste zu vereinen.

Die Grupa Przyszłość selbst bestand aus vielen einflussreichen Leuten. Viele waren Mitglieder des polnischen Adels, der Szlachta. Einige der Wissenschaftler in der Gruppe kannten sowohl Mościcki, als auch Rydz-Śmigły persönlich. Das war ein guter Ausgangspunkt, um beiden Entscheidungsträgern die Lage zu erläutern und sie zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen. Ein Fest wäre ein guter Anlass, die beiden Staatsmänner offiziell zusammen zu bringen und es ergab sich, dass Izabella Czartoryska, eine Mathematikerin aus der Grupa Przyszłość in der nächsten Woche Geburtstag hatte. Izabella entstammte dem Adelsgeschlecht Czartoryski, die mit dem Schloss der Familie in Puławy bei Lublin einen idealen Ort für eine solche Feier besaßen.

Als Brent am Abend in sein Zimmer kam, fühlte er sich bedrückt und allein. Er vermisste Kathleen, was dadurch verschlimmert wurde, dass er nicht wusste, ob ihr etwas zugestoßen war. Vielleicht befand sie sich, genau wie er an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit. Plötzlich hatte er wieder das Gefühl, als würde ihn etwas aussaugen. Nur diesmal war es sehr viel stärker.

Raumstation Camp Tschao, wenige Minuten früher

Jeff hatte das Kontrollsignal, welches zum ersten Kontakt mit Brent Spiner geführt hatte rekonstruiert und verstärkt. Mit einer zusätzlichen Stabilisierung sollte es möglich sein, den Mann wieder zu erreichen. Diesmal hatte sich die Besatzung der Station auf eine Begegnung systematisch vorbereitet. Alle Sensoren waren geschaltet und zu Messzwecken programmierte Multisonden befanden sich in verschiedenen Abständen im All, um jede Veränderung des Raumes zu erfassen. Eine Sonde war zum Stern Beta Gruis geschickt worden, weil dort eventuell messbare Effekte auftreten könnten. Gorl aktivierte den Sender und der Rest der Mannschaft befasste sich damit, die Messdaten zu verfolgen und natürlich damit, auf Brent Spiner zu warten. Der erschien viel plötzlicher, als erwartet. Er war einfach von einem Moment auf den anderen da. Diesmal nur sehr viel deutlicher. Er sah sich zunächst um und orientierte sich. Dann sah er Samoka, lächelte galant und deutete eine Verbeugung an. „Oh, selbst unter Aliens gibt es schöne Erscheinungen“, bemerkte er mit einer, wie Samoka fand, höchst angenehmen Stimme, „Gestatten Sie, dass ich mich trotzdem ein wenig überrascht zeige, dass ich hier bin?“ Samoka lächelte nun ebenfalls und sagte „Guten Abend Mr. Spiner. Wie geht es Ihnen?“ Gorl bemerkte amüsiert, dass es Samoka Lee mühelos gelang, selbst angeblich Tote noch zu verwirren. „Oh, sie haben also herausgefunden, wer ich bin. Dann können sie mir vielleicht auch sagen, wie ich hierhergekommen bin? Sie werden vielleicht nachvollziehen können, dass ich die plötzliche Veränderung meiner Lebenssituation weder begrüße, noch freiwillig angetreten habe. Also, was ist das hier? StarTrek für Laienschauspieler?“ Samoka sah Brent fragend an. Von StarTrek hatte sie noch nie etwas gehört. Spiners Sarkasmus war zwar mehr als verständlich, aber half nicht weiter. Also fragte sie ihn, „Mr. Spiner, sie befinden sich in diesem Moment im Jahr 2169 auf der Raumstation Camp Tschao, ca. 3000 Lichtjahre von der Erde entfernt und mein Name ist Samoka Lee. Unseren Informationen zufolge dürfte das gar nicht der Fall sein, da sie 1999 bei einem Meteoriteneinschlag in der Stadt Portsmouth getötet wurden. Aber vielleicht ist es ihnen ja möglich, etwas Licht ins Dunkel dieser Geschichte zu bringen. Tot sind sie offenbar nicht, jedenfalls nicht biologisch. Können sie uns sagen, von wo wir sie hierhergeholt haben?“ Brent zeigte ein halb amüsiertes, halb ironisches Lächeln. „Das Wo ist die Stadt Lwowski in Polen. Interessanter dürfte das Wann für sie sein: Ich befinde mich im Jahr 1935!“ Gorl schaltete sich in das Gespräch ein „Also hat sie der Einschlag an einen anderen Ort und in die Vergangenheit geschleudert? Das passt ins Bild, auch wenn das physikalisch höchst rätselhaft ist.“ Brent Spiner unterbrach Gorl mit einer ärgerlichen Geste „Wissen Sie, Mr. Spock, ihr – Bild interessiert mich überhaupt gar nicht. Ich will nur zurück nach England, zurück in meine Zeit und ich will wissen, ob meine Frau lebt und wie es ihr geht. Und wenn ich schon in ihr Bild passe, dann holen sie mich gefälligst auch wieder da raus!“ In diesem Moment rief Jeff von seiner Konsole aus, dass sich das Bosonengleichgewicht zu verschieben begann. Brent wurde durchsichtiger und begann zu flimmern. Samoka fragte noch, was Brent dort in Polen tat. Die Antwort kam leise und verzerrt, wie aus einem alten Röhrenempfänger und war völlig unverständlich. Dann verschwand der Besucher aus der Vergangenheit so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Sita ließ die Aufzeichnung der letzten Sekunden von Brent’s Anwesenheit noch einmal ablaufen und verstärke den Ton. Brent’s letzter Satz lautete: „Ich verhindere gerade den Zweiten Weltkrieg!“

Lwowski, Polen, Minuten „später“

Brent fühlte sich, als wäre gerade eine Herde Bisons über ihn hinweg gerast – und zwar eine große. Er befand sich wieder in seinem Zimmer in Lwowski. Alles schien normal, außer dem Wissen, dass es Menschen gab, die ihn auf eine Raumstation, die sich 234 Jahre in der Zukunft befand, holen konnten. Brent war sich sicher, dass diese Typen etwas mit seinem Dilemma zu tun hatten. Sollten sie ihn wieder holen, würde er versuchen, mehr über sie zu erfahren. Wenn sie ihn hierherbringen konnten, vermochten sie vielleicht auch das Gegenteil zu tun. Brent hatte nicht den Eindruck gehabt, dass ihm diese Zukunftstypen schaden wollten. Also würde er versuchen, mit ihnen zusammen zu arbeiten.

Camp Tschao, zur gleichen Zeit

Samoka starrte Gorl an, der schaute verblüfft in Sitas Richtung, die wiederum Gedro und Janita ansah. Jeff stand auf und unterbrach die stille Runde mit einem bedeutungsschweren „Wow!“ Alle Blicke hefteten sich auf sein Gesicht. „Wenn der Typ das tut, dann kann das Konsequenzen bis in unsere Zeit und darüber hinaus haben!“ stellte er kopfschüttelnd fest. „Dann allerdings müssten wir das schon längst bemerkt haben.“, gab Gedro zu bedenken, „Dann hätte unsere Geschichte nicht so stattfinden können, wie sie stattgefunden hat. Hier greift doch eindeutig das Großvaterparadoxon, oder? Ich meine, wie kann er 1999 aus dem vom Weltkrieg mit geformtem England in den Krieg gereist sein, wenn der Krieg gar nicht stattfand?“ Gorl hatte den Kopf in die Hände gestützt und dachte intensiv nach. Ohne aufzublicken erwiderte er „Spiner befindet sich ja gar nicht im Krieg. Er ist im Jahr 1935, da hatte der Krieg noch gar nicht begonnen.“

Jeff, der gerade die Rechnerkonsole bearbeitete nickte zustimmend „Unser guter Mr. Spiner kann dort durchaus eine ganze Menge Dinge bewegen. Er ist Waffenkonstrukteur von Beruf und befindet sich in dem Land, dass bereits 1935 erhebliche Diskrepanzen mit dem Nazireich hatte. Wenn in Polen die richtigen Leute sein Potential und die damit verbundenen Möglichkeiten erkannt haben, kann es sein, dass sie bereits begonnen haben, die Geschichte umzuschreiben. Wenn Brent Spiner tatsächlich den Krieg verhindern will, wird er Waffen für die polnische Armee entwickeln, die zu seiner Zeit modern waren. Das dürfte dann eine bittere Überraschung für Hitler und Stalin werden. Mir ist übrigens etwas aufgefallen, als wir den Ton der letzten Worte unseres Freundes verstärkt haben. Janita, könntest du die Szene mit dem verstärkten Ton noch einmal laufen lassen und könnten wir das Licht bitte abdunkeln?“

Die Beleuchtung wurde deutlich dunkler und die Szene lief an. Brent Spiner stand durchsichtig und flackernd am Hypersender. Dann setzte die Tonverstärkung ein, die sich auch auf das Bild auswirkte. In der Dunkelheit sah man Gegenstände die Spiner in seiner Zeit umgaben. Jeff wartete einen Augenblick und bat Janita dann, die Szene zu stoppen. Dann sah er sich im Raum um und zeigte auf Samoka, die als einzige Anwesende in weiß gekleidet war. „Sami, ich brauche deine Bluse.“ verlangte er, als sei es die normalste Sache der Welt, Frauen dazu aufzufordern sich zu entkleiden. „Geht’s noch“, fragte die Angesprochene bissig zurück, „ich trage nichts drunter.“ Jeff streckte ungeduldig die Hand aus. „Nun mach schon, kriegst sie ja gleich wieder.“ Samoka öffnete den Magnetverschluss ihrer Bluse und reichte sie Jeff mit säuerlicher Miene. Bevor sie die Arme vor ihren Brüsten verschränkte, drehte sie sich zu Gorl um, zeigte mit den Fingern auf die perfekt geformten Hügel und streckte ihm die Zunge raus. Jeff ging derweil mit Samokas Oberbekleidung um den Sender herum, blieb plötzlich stehen und breitete den hellen Stoff wie eine Leinwand aus. Auf dem hellen Stoff war deutlich ein Gegenstand zu erkennen. Jeder hier im Raum hatte schon mal alte Filme gesehen und jeder sah sofort, dass es sich bei dem Gegenstand dort im Jahr 1935 um einen Notebookcomputer handelte. Samoka trat näher an das Bild heran, ohne sich darum zu kümmern, dass sie halb nackt war und deutete auf den Bildschirm des Notebooks, auf dem sich eine Konstruktionszeichnung erahnen ließ. „Ich kenne mich ja mit Waffen aus dem vorletzten Jahrhundert nicht gut aus“, brummelte sie, ohne den Blick zu wenden, „aber unser Kumpel baut seinen neuen Freunden hier eindeutig einen Raketenwerfer.“ Sie drehte sich mit einer hinreißenden Bewegung, die Gorl zu einem nicht zu überhörenden Seufzer veranlasste um und fuhr fort „Der Mann hat längst damit begonnen, unsere Vergangenheit durcheinander zu würfeln. Und wir haben keine Möglichkeit, ihn zu stoppen. Jeff, gib mir meine Bluse wieder; Gorlilein fängt nämlich an zu sabbern.“

„Wenn er einen Computer hat und die damals übliche Software, kann Spiner den gesamten Verlauf der Geschichte dramatisch verändern.“ sagte Sita, die sich mit der jüngeren Geschichte der Erde unter allen Anwesenden am besten auskannte. „Stimmt, er braucht nur eine der damals üblichen Tabellenkalkulationen, um unsere Vergangenheit gründlich auf den Kopf zu stellen.“ fügte Gedro hinzu. Samoka, die inzwischen wieder in sittlich unbedenklichem Zustand in der Tür lehnte, unterbrach die Diskussion indem sie fragte „Wenn er die Vergangenheit beeinflusst, bedeutet das denn tatsächlich, dass sich die Eingriffe auf unsere Gegenwart und Zukunft auswirken? Was wissen wir darüber?“ Sie sah in die Runde, aber jeder den sie anschaute, parodierte nur auf seine Weise das Wort Nichts!

Aufbrüche

Schloss Czartoryski, Puławy, 27.10.1935

Die Mitglieder der Grupa Przyszłość hatten es geschafft sowohl Ignacy Mościcki, als auch Rydz-Śmigły zu der Geburtstagsfeier nach Puławy einzuladen. Beide tauchten mit einem ganzen Pulk von Leibwächtern und Vertrauten auf und taten das, worauf sie sich blendend verstanden: sie ignorierten sich. Die anderen Gäste, alles Mitglieder der Grupa, spielten das Spiel zunächst mit. Während der junge Graf Tadicz ganz in Manier des polnischen Adels, der Szlachta, die Gäste amüsierte, sprach Professor Alexeij Urbanski die beiden führenden Männer Polens getrennt voneinander an und bat sie zu einer Sache höchster Wichtigkeit in einen etwas abgelegenen Salon. Beide willigten ein, denn Urbanski galt beiden als untadeliger und unbedingt vertrauenswürdiger Mann. Als sich Rydz und Mościcki auf den Weg machten, gab Urbanski Tadicz ein kaum merkliches Zeichen. Der junge Graf entschuldigte sich bei einer Schar ebenso junger Damen, die ihn umlagerten und begab sich durch eine Hintertür schnell in den Salon.

Brent Spiner und zwei Studenten aus der Grupa 2 waren gerade dabei im Nebenzimmer den Computer zu starten, als Tadicz eintrat. „Sie kommen!” teilte er den Anwesenden mit, zu denen auch Marek Bronikowski vom polnischen Geheimdienst zählte. Brent setzte sich schnell in einen der bequemen Ledersessel und versuchte möglichst unbeteiligt zu wirken. Die Tür ging auf und zwei bullige Gestalten traten ein, gefolgt von Ignacy Mościcki. Der schmale Politiker wirkte zwischen den beiden Leibwächtern, wie eine Bambusstange zwischen zwei Mammutbäumen. Edward Rydz-Śmigły erschien ebenfalls mit zwei Ramboverschnitten. Graf Tadicz bot beiden einen Platz an, stellte aber weder Brent, noch den Geheimdienstoffizier vor. Es klopfte und Urbanski trat ein. Brent fiel auf, dass die Leibwächter keine erkennbare Reaktion zeigten. Ein sicheres Zeichen dafür, dass vor der Tür weitere Muskelmänner zugegen sein mussten.

Bevor jemand etwas sagen konnte, ergriff Rydz das Wort und erkundigte sich ohne Umschweife danach, was denn nun so wichtig sei, dass man ihn der wunderbaren Gesellschaft der Fürstin Czartoryska entrissen hatte. „Vielleicht sind ja die Deutschen einmarschiert?!“, fügte er mit unüberhörbarer Ironie hinzu, was bei einigen Anwesenden Gelächter auslöste. „Noch nicht, mein lieber Edward“, antwortete der alte Urbanski liebenswürdig, „aber sie werden es in genau 3 Jahren, 10 Monaten, 2 Tagen und 8 Stunden tun.“ Er steckte seine Taschenuhr weg, auf die er geschaut hatte, als wenn dort der Einmarschtermin abzulesen gewesen wäre und nickte freundlich in die Runde. Sowohl Mościcki, als auch Rydz-Śmigły verloren nur für einen kurzen Moment die Fassung, dann lachten beide herzlich über diese gelungene Krönung von Smigly’s Witz. Marek Bronikowski stand auf und rückte umständlich seine Brille zurecht. Wie alle Geheimdienstler wirkte er humorlos und undurchsichtig. „Das war eine sehr präzise Angabe, Herr Professor, aber ich fürchte, dass ihre Uhr 2 Minuten nachgeht. Gestatten, Oberst Marek Bronikowski vom Biuro 5.” Das Lachen erstarb und Bronikowski nutzte die Stille, um weiter zu sprechen. „Ich muss darum bitten, dass ihre Leibwächter den Raum verlassen. Ich gebe ihnen mein Wort, dass wir diesen Raum und alle Anwesenden vor dem Treffen gründlich überprüft haben.” Beide Staatsmänner spürten, dass sich hinter den Zahlenspielen während der Begrüßung mehr verbarg, als nette Witzchen. Also bedeuteten sie ihren Schergen, den Salon zu verlassen, was diese auch sichtbar widerwillig taten. Brent erhob sich aus seinem Sessel und lächelte höflich. Dann sagte er auf Englisch „Glücklicherweise hat man mich darüber informiert, dass sie beide meine Sprache sprechen. Gestatten, Brent Spiner aus Portsmouth, Großbritannien.” Brent reichte dem zunächst dem Präsidenten und anschließend dem General die Hand. Mościcki sah ihn eindringlich an und fragte „Darf ich wohl annehmen, Mr. Spiner, das sie der Grund für diese geheimnisvolle Veranstaltung sind?” Brent nickte, „Sie dürfen Herr Präsident. Ich bin aber davon überzeugt, dass sie ihr Kommen nicht bereuen werden.” Andreij Tadicz bemerkte dazu beinahe beiläufig „Auch wenn sie es noch nicht glauben werden, aber Mr. Brent kommt nicht nur aus England, sondern hat noch weit mehr, was ihn für uns äußerst kostbar macht. Bitte meine Herren, lassen sie Mr. Spiner erklären und glauben Sie uns: Was er sagt, ist die Wahrheit, so unglaublich sie ihnen auch – noch – erscheinen mag.”

Brent begann, seine Geschichte zu erzählen, die sich Präsident und General interessiert, aber ohne rechte Überzeugung anhörten. Rydz- Śmigły wollte gerade abwinken und fragen, was die Vorstellung hier eigentlich sollte, als sich hinter Brent die Leinwand erhellte und ein deutscher Stuka unter infernalischem Geheul in den Sturzflug ging. Die krachende Bombenexplosion ließ ein Haus in sich zusammensinken. Weitere Bomber griffen die Stadt unter sich an. Nach und nach wurden mehr Details der attackierten Stadt sichtbar und die beiden Machthaber erkannten Warschau. Weitere Bilder deutscher Panzer und Truppen wurden gezeigt und von Brent kommentiert. Das deutsche Linienschiff Schleswig-Holstein kam ins Bild, wie es die Westerplatte bei Danzig beschoss. Dann gab es Bilder, die sowohl Mościcki, als auch seinen General in tiefstes Erschrecken versetzten. Es waren Aufnahmen, die den General abgekämpft und geschlagen auf der Flucht nach Rumänien zeigten. Nach den Bildern des deutschen Einmarsches in Warschau gesellte sich Professor Urbanski zu Brent und begann über die Grupa Przyszłość zu sprechen.

17.09.2169, Raumstation Camp Tschao

Gedro folgte der Ortung des Quantenradars. In der Mitte der Orterkammer leuchtete ein 3 Meter durchmessendes Hologramm, das den umliegenden Weltraum darstellte. Gorls Basis bildete den Mittelpunkt des Hologramms Auf der einen Seite der Station bewegte sich die Henri Poincaré langsam von Camp Tschao weg. An drei anderen Positionen befanden sich Multisonden im Raum. Gedro projizierte die Signale des Hypersenders in die Darstellung und ließ die Werte an Gorls Konsole einblenden. Der Rest des Teams befand sich auf der Henri Poincaré, die sichtbar beschleunigte. Gorl schickte ein Signal in Richtung des Schiffes los, das an der gleichen Stelle, wie das Raumschiff in die fünfte Dimension eintrat. Die Empfänger der Henri Poincaré registrierten das Signal genau zwischen den Dimensionen. Die Beschaffenheit des gesendeten Signals entsprach der des ersten Fehlschlages. Wie bereits vorher, raste eine Raumzeit-Energieblase auf die Multisonden zu und wurde von einer erfasst. Die mitgesendete Zeit wurde von der Quantenuhr der Sonde entziffert und verglichen. Die Raumzeit-Energieblase befand sich ca. 3 Millisekunden in der Vergangenheit, als sie von der Sonde registriert wurde. Weitere Messungen dieser Art wurden über verschiedene Entfernungen gemacht. Bis eine Systematik in den Messergebnissen erkennbar wurde, waren mehr als 100 solcher Versuche nötig. Im Laufe der Messung gelang es eine Beziehung zwischen Energie, Geschwindigkeit und Zeit zu ermitteln.

Nach Abschluss der Messreihe benötigte die Crew ein zweites Schiff, um zu testen, ob sich die Ergebnisse verifizieren ließen und ob man den zeitlichen Effekt umkehren konnte. Da die Masse der eingesetzten Schiffe in den Berechnungen als Konstante Verwendung fand, musste das zweite Schiff von der Größe her ungefähr der Henri Poincaré entsprechen. Zeit also, den galaktischen Wissenschaftsrat in Gänze zu informieren.

22.09.2169, Galaktischer Wissenschaftsrat, Gor-Krapur, Planet Trombur

„Und es gibt keine Erkenntnisse, wie sich Veränderungen in der Vergangenheit auf unser heutiges Leben auswirken?“ Padro–Tel, der 1. Sprecher des Rates legte die Stirn in Falten und blickte in die Runde der sechs Neuankömmlinge. „Müssten wir nicht längst etwas davon bemerken?“ Gorl ließ ein Hologramm entstehen, das eine Zeitlinie von 1930 bis 2200 darstellte. Anhand der Darstellung erklärte er, dass die Veränderungen, welche Brent Spiner zurzeit verursachte in relativ kleiner Anzahl stattfanden, da seit seinem Auftauchen im Jahr 1935 erst wenige weitere Personen direkt an Veränderungen beteiligt sein konnten. Gorl zoomte die Jahre 1935 bis 1945 heraus und legte über die Zeitlinie eine Häufigkeitsdarstellung, die zeigte, dass die von Spiner ausgelösten Veränderungen im Laufe der Jahre exponentiell vervielfachen würden. Sollte es Auswirkungen von Spiners Handeln auf die Zukunft geben, so mochten sie aufgrund der geringen Anzahl zum jetzigen Zeitpunkt kaum sichtbar sein. In naher Zukunft würde sich das allerdings drastisch ändern. „Was also ist der Plan?“ erkundigte sich Sven Holgersson, der Sprecher des Planeten Erde.

Janita Landgraf brachte es auf den Punkt: „Der Plan ist, dass wir Mr. Spiner wieder zurück in seine Zeit bringen müssen. Ganz gleich, ob und wie sein Handeln sich auf historische und aktuelle Entwicklungen auswirken mag, war es eines unserer Experimente, das ihn dort hingebracht hat. Was geschieht liegt demnach auch in unserer Verantwortung. Zudem ist es unsere moralische Pflicht, dem Mann zu helfen, oder?“ An den moralischen Aspekt hatte bei diesem Problem überhaupt noch niemand gedacht. Speziell Gorl versuchte plötzlich angestrengt irgendetwas Interessantes auf dem Fußboden zu entdecken. Padro-Tel sah Gorl an. Der fand aus seiner Verlegenheit zurück und fühlte sich auch ohne Worte aufgefordert, einen Vorschlag zu unterbreiten. Also sagte er, was alle ohnehin gerade dachten „Wir bringen Spiner zurück. Ich habe noch keinen Schimmer, wie das gehen soll, aber wir finden einen Weg! Solange stellen wir den Aufbau eines Hyperfunknetzes zurück. Bis wir eine Lösung für Mr. Spiner gefunden haben, haben wir immerhin die Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren. Möglicherweise können wir ihn dazu bringen, mit uns zusammen zu arbeiten. Machen wir uns also auf den Weg!“

Als Teraschnek–Gorl Moiseyenko diese Worte aussprach, konnte er nicht ahnen, wie lange der gerade beschrittene Weg noch dauern sollte.

Am nächsten Tag begab sich Sven Holgersson zum Regierungssitz des Galaktischen Bundes nach First Village auf dem Planeten Mars. Beim Anflug auf die Metropole mit mittlerweile 40 Millionen Bewohnern, gingen ihm Bilder von der ersten Marslandung der Menschen vor 167 Jahren und die erste Siedlung aus drei engen Habitatkapseln und drei ziemlich primitiven Schiffen, die damals den Namen First Village erhielt durch den Kopf. Die Stelle gab es heute noch. Im Jahr 2051 war die Landestätte originalgetreu wieder her gerichtet und mit einer Multimedia -Kuppel überdacht worden. Aus dem anfliegenden Shuttle heraus war die Stelle allerdings nicht mehr auszumachen. Sie verbarg sich irgendwo zwischen kilometerhohen Wohn- und Verwaltungsbauten. Sven verdrängte die Bilder, die er nur aus dem Schulunterricht kannte und begann, seine Sachen zusammen zu packen. Keine fünf Minuten später setzte der Shuttle auf einer Plattform des Galactic Federation Centre auf. Der gigantische Komplex wirkte auf den ersten Blick chaotisch, weil hierin die charakteristischen Baustile von 7 Planeten vereinigt waren. Da gab es den von Hundertwasser – Schülern vom Planeten Erde gestalteten Torre del Terra, daneben die Tromburiana, die Bauxitrote Marsnadel, das Raman – Buildung, die Halle von Gii, schließlich das Talniri- Center, alle in 1500 Metern Höhe durch den Blue-Heaven-Ring verbunden. Hier tagte die Regierung des Galaktischen Bundes. 11000 Abgeordnete, 165 Minister, 8 Sektorpräsidenten und der Galaktische Kanzler lenkten von hier aus das größte Staatengebilde, welches je von Menschen bewohnt wurde. Trotz der chaotischen Bauweise hinterließ das Federation Centre bei jedem Besucher einen bleibenden Eindruck. Sven Holgersson erging es nicht anders, obwohl er das Gebäude monatlich besuchte.

„Holgersson! Kommen Sie nur herein, mein Freund. Sie kennen Ministerin Anta-kal-Tep?“ Der Wissenschaftsminister, für den der Wissenschaftsrat auf Trombur tätig war, schien sich ehrlich zu freuen, Sven zu sehen. Neben ihm stand eine Frau mittleren Alters, deren Kleidung und Hautfarbe sie eindeutig als Bewohnerin Tromburs charakterisierte. „Ich muss sie enttäuschen Minister, aber Mrs. Kal-Tep ist bereits seit langem bekannt. Bevor sie in die Politik geflüchtet ist, haben wir auf Trombur schon ein paar Rocketslide – Rennen gegeneinander ausgetragen. Leider hat Anta das letzte Rennen gewonnen, weshalb sie diesen entzückenden Iridium – Anhänger aus Romnapur trägt. Die Ministerin kam auf Sven zu, umarmte ihn biss ihm, so dass der Wissenschaftsminister es nicht sehen konnte, sanft ins Ohrläppchen. „Schön dich zu sehen Sven, lädst du mich heute Abend zum Essen ein?“ flüsterte sie. „Red Rock, 19:00h“, gab er ebenso leise zurück und vernahm noch ein „Gut“ von ihr, als sie sich wieder von ihm löste. Der Minister, der von der kurzen Unterhaltung absolut gar nichts mitbekommen hatte, sah seine Kollegin mit gespieltem Entsetzen an „Anta! Sie sind Rocketslide – Rennen geflogen? Ich bin erschüttert! Das ist doch nur etwas für harte Kerle.“ Anta-kal-Tep winkte ab und verließ das Büro. Sven hatte das deutliche Gefühl, dass hinter dem Essen an diesem Abend mehr steckte, als nur die Freude über Wiedersehen.

Er begann dem Wissenschaftsminister die Ereignisse der letzten Wochen darzulegen, die dieser sich mit wachsendem Interesse anhörte. Am späten Nachmittag hatte Sven Holgersson 6 voll ausgerüstete Forschungsschiffe, Zugriff auf die Archive von Gii und die Unterstützung zweier Forschungsinstitute, die sich mit Chronologie und Kausalität befassten. Das war mehr, als er erwartet hatte, aber der Minister begriff sehr schnell, die Bedeutung von Gorls Forschungen, als auch die möglichen Folgen des fehlgeschlagenen Sendeversuches. „Und haben sie eine Ahnung, wie der junge Moiseyenko die Sache lösen will?“ wollte der Politiker am Ende des Gespräches wissen. Sven Holgersson konnte diese Frage nicht einmal ansatzweise beantworten.

Das Red Rock war mit Abstand die berühmteste Bar des bekannten Universums. Es war die erste Kneipe, die Menschen von der Erde auf einem anderen Planeten eröffnet hatten und die Big Old hatten hier viel Zeit verbracht. Hier wurde beschlossen, wohin der erste Sternenflug der Menschheit gehen sollte und hier war der erste Erdenmensch mit einer Tromburianerin verkuppelt worden. Beim Bier im Red Rock erkannten die Menschen, dass sie alle, vom welchem Planeten sie auch stammten, aus einer Urmenschheit hervorgegangen waren. Und hier war beschlossen worden, dieses Ahnenvolk zu suchen. 2007 wurde es dann in einem fantastischen, künstlich veränderten Sonnensystem in der Großen Magellanschen Wolke entdeckt. Das Red Rock war schlichtweg die Kneipe im Universum.

Sven Holgersson betrat den Barraum gegen kurz vor Sieben. Er hielt nach einem leeren Tisch Ausschau und fand einen in einer Ecke. Nebenan berichtete ein Frachterpilot mit dröhnendem Bass, der zweifellos durch eine erhebliche Menge Alkohol empfindlich laut war, von seinem letzten Flug in irgendein System mit irgendeinem verflucht gefährlichen Asteroidenfeld. Es waren Typen wie dieser, die die Atmosphäre dieses Ortes ausmachten. Anta-kal-Tep kam ein paar Minuten später. Niemand nahm vom Auftauchen der Politikerin Notiz. Sven winkte sie heran, sie begrüßten sich und nahmen Platz. Auf der Tischplatte erschien ein Auswahlmenü, um Speisen und Getränke zu wählen. Anta tippte auf Ramanisch, dann auf die Pittu – Aufläufe. Die möglichen Varianten erschienen als Hologramme auf dem Tisch und Anta zeigte einfach auf das, welches sie haben wollte. Mit den Getränken verhielt es sich genauso. Auch Sven traf seine Wahl. Trotz der zeitgemäßen Bestellweise und einer recht zügigen Zubereitung wurden die Speisen hier immer noch von menschlichen Kellnern serviert.

Während des Essens kam Anta sofort zur Sache. Als Ministerin für Katastrophenschutz, war sie hellhörig geworden, als sie von den Folgen des Fehlschlages auf Camp Tschao hörte. Sie wollte von Sven wissen, wie die weiteren Experimente aussehen sollten, um eine Methode zu finden, Brent Spiner möglichst rasch in das Jahr 1999 zurück zu schicken. Da Holgersson ihr diese Frage nicht wirklich beantworten konnte, beschloss sie kurzerhand Camp Tschao mit einem Expertenteam zu besuchen, um mögliche Risiken für bewohnte Welten zu erkennen und auszuschließen. „Schau Sven, was geschieht, wenn deine Genies so ein Energiezeitdingenskirchen mit weit mehr Energie erzeugen müssen, weil sie ja schließlich einen Körper durch die Zeit transportieren müssen? Was, wenn das zwangsläufig sehr energiereiche Gegensignal auf irgendeine Stadt träfe? Ich bin mir sicher, dass deine Freunde auf der Station die meisten Dinge mit einkalkulieren und keinesfalls jemandem schaden wollen. Aber es ist einmal schief gegangen und es könnte wieder geschehen.“ Sven Holgersson bekam langsam eine Ahnung, worauf die Ministerin hinaus wollte. „Du willst die Arbeit auf Camp Tschao kontrollieren lassen, stimmt’s?“ Anta war nicht die Frau, die lange um den heißen Brei herum redete. Also kam sie unverblümt zur Sache. „Ich will zwei Leute in deinem Team haben, die fortwährend darüber wachen, dass nichts passiert.“ Sven glaubte, nicht richtig zu hören. „Und was sollen sie tun, wenn sie zu der Auffassung gelangen, dass etwas passieren könnte?“, fragte er vorsichtig. Wieder antwortete Anta ohne Umschweife „Sie werden die Vollmacht erhalten, das Projekt sofort zu stoppen!“ Sven sah Anta einen Moment lang an, schüttelte den Kopf und sagte mit Nachdruck „Nein Anta, auf keinem Fall! Keiner, außer diesen sechs Personen versteht auch nur ansatzweise, was geschehen ist und was vorgeht. Deine Kettenhunde würden schon bei der ersten Merkwürdigkeit die Hosen voll haben und abbrechen. Und diese Geschichte steckt voller Merkwürdigkeiten. Und wir haben gar nicht die Wahl, ob wir das durchziehen oder nicht. Bringen wir Brent nicht zurück, können die Folgen in einigen Jahren uns alle betreffen. Wir müssen handeln und wir müssen schnell sein. Behalt deine Schoßhunde für dich. Ende der Durchsage!“ Sven stand auf, tippte einen Bezahlcode in die Tischplatte und verließ das Lokal mit einem knappen „War schön dich zu treffen.“

Anta sah ihm nach und überlegte einen Moment lang. Sie war nicht nur die Frau, die schnell auf den Punkt kam, sie war auch die Frau, die sich nicht einfach abspeisen und kaltstellen ließ. Aber das alles war kein Grund, diesen wunderbaren Pittu-Auflauf stehen zu lassen. Also wandte sie sich wieder ihrem Essen zu und überlegte sich ihre nächsten Schritte.

01.11.1935, Königschloss, Warschau

Edward Rydz-Śmigły betrat den Palast am späten Abend durch einen Lieferanteneingang. Hier, in der Schaltzentrale der Regierung war der Führer der oppositionellen Obristen schon lange nicht mehr gewesen. Offiziell war er das auch heute nicht. Die Gruppe Schloss und die Obristen waren und blieben offiziell erbitterte Gegner, die in Polen um die Macht rangen. Deshalb sollte die Anwesenheit des Generals hier im Schloss auch völlig unbemerkt bleiben. Außer Präsident Mościcki wussten nur einige Mitglieder der Grupa von der neuen Allianz zwischen dem Staatspräsidenten und dem General. Den beiden mächtigen Männern der zweiten Republik war noch während der Geburtstagsfeier auf Schloss Czartoryski klar geworden, dass sie Polen nur gemeinsam vor den Nazis retten konnten. Jeder Streit zwischen ihnen war angesichts der neuen Lage bedeutungslos geworden. Offiziell, besonders um die Deutschen zu täuschen, musste er aber weitergehen. Rydz- Śmigły benutzte eine Nebentreppe, um in den Pokoje Dworskie zu gelangen. Dort warteten bereits Ignacy Mościcki, Andreij Tadicz, Marek Bronikowski und Brent Spiner auf ihn. Als das Treffen am Morgen des 02.11. endete, lagen Beschlüsse und Pläne für eine moderne polnische Armee auf dem Tisch. Von jetzt an begann die Grupa mit ihrer Arbeit und Polen machte sich auf den Weg in die Zukunft.

30.09.2169, Raumstation Camp Tschao

Von außen betrachtet erinnerte die Station an die ganz frühen Blechkanister, die von den Menschen mit chemischen Raketen vor 200 Jahren in niedrige Umlaufbahnen um die Erde befördert wurden. Nur dass das Gebilde bei
Hinds veränderlichem Nebel ungefähr zehnmal so groß war, wie es die Mir oder die ISS gewesen waren. An jeder Andockschleuse von Camp Tschao hing ein Raumschiff. Insgesamt sieben Schiffe, von denen jedes Einzelne größer war, als die Station selbst, hatten das abgelegene Raumlabor in eine Stadt im All verwandelt. Wollte man vom Heck des Schiffes an der Unterseite zum Heck des Schiffes gehen, das an der Oberseite angekoppelt lag, hatte man muntere 2,5 Kilometer vor sich. Auf der sonst so stillen Forschungsstation herrschte plötzlich mehr Betrieb, als am Raumhafen von First Village zur Hauptgeschäftszeit. Kein Wunder, die Besatzung hatte sich ‚über Nacht’ von sechs Personen auf 573 Personen vergrößert.

Teraschnek–Gorl Moiseyenko war im Grunde ein stilles Genie. Er liebte es, in einer abgelegenen Ecke zu denken und zu experimentieren und die Welt dann mit einer bahnbrechenden Erfindung zu überraschen. Wenn Gorl eines nicht schmeckte, dann war es die Leitung großer Projekte mit vielen Beteiligten. Im Moment saß er mit Janita und Jeff zusammen und machte eine ziemlich unglückliche Figur. Er musste 572 Menschen dazu bringen, dass sie zwei Ziele erreichen konnten:

Brent Spiner aus der Vergangenheit in seine längst vergangene Gegenwart zurück zu bringen und die Hyperfunktechnik so sicher zu machen, dass es keine weiteren Brent Spiners geben würde.
Das zweite Ziel war einfach zu erreichen. „Das ist nur Technik“, erklärte er seinen beiden Zuhörern und wedelte dabei mit den Händen, wie Nero, der einen langweiligen Sangesknaben zu den Löwen schickt, „Aber wie bringen wir Spiner zurück?“ Das war tatsächlich die weit komplexere Frage. Nicht nur komplex, sondern unangenehm wurde die Frage dadurch, dass in knapp 5 Minuten eine Besprechung mit rund zweihundert der exzellentesten Köpfe der Menschheit anstand, auf der Gorl genau diese Frage stellen musste. Vorbei die Zeit des stillen Forschens. In 5 Minuten würden zweihundert Eierköpfe mit dreihundert Meinungen über diese Frage diskutieren. Noch weit unangenehmer wurde die Frage dadurch, dass vorgestern eine Multisonde vom Mars mit den Nachrichten von News Galaxy eingetroffen war. Die neueste Sendung begann mit der Headline Bedrohung aus der Vergangenheit und zeigte den verdammten Pressegeier Harold P. Green in einem Interview mit der galaktischen Ministerin für Katastrophenschutz, Anta-kal-Tep. Die erzählte zwar gerade völligen Bullshit über den Unfall von Brent Spiner, aber das mit einer Dramaturgie und Theatralik, wie es nur Politiker konnten.

Gorl war von einem Moment auf den anderen zum Public Enemy geworden. Zum Glück wusste Green (noch) nicht, wo sich die Forschungsstation befand. Den Namen Camp Tschao hatte Anta-kal-Tep nicht erwähnt und würde es auch im eigenen Interesse kaum tun. Ansonsten hatte die dusselige Schnecke (Gorls neuer Name für die Ministerin) wirklich alles versaut, was man in einem 3-Minuten Interview versauen konnte.

Janita drängte zum Aufbruch und betrat zusammen mit Jeff und Gorl kurze Zeit später den großen Versammlungssaal auf dem Forschungsschiff Robert Zubrin. Sie begaben sich auf das Podium, wo bereits Samoka, Gedro und Sita warteten. Neben den Sesseln standen abseits der Bühne noch einige Projektoren, da noch ein weiterer Gast erwartet wurde. Auch die Nanokameras in der Luft über dem Podium waren durchaus ungewöhnlich für eine solche Veranstaltung.

Samoka Lee übernahm es, die Gäste zu begrüßen. Sie war zweifelsohne die medienwirksamste Wissenschaftlerin ihrer Zeit. Samoka moderierte ihr eigenes Wissenschaftsmagazin The unknown Unviverse. Sie fühlte sich im Rampenlicht wohl, hatte fast jedes Publikum im Griff und obwohl in diesem Saal die intellektuelle Elite aller Menschenvölker versammelt war, schlug sie selbst diese Zuhörerschaft sofort in ihren Bann. Gorl hatte sie oft dabei beobachtet und kam allmählich dahinter, wie sie das machte. Von der Tochter eines Marsianers und einer Ramanerin ging stets etwas Erotisches und etwas Geheimnisvolles aus. Allein mit der Art, wie sie sich bewegte, wenn sie beispielsweise auf eine Kamera oder ein Mikrofon zuging, zog sie die Aufmerksamkeit nicht nur der männlichen Anwesenden auf sich. Wenn sie hochaufgerichtet mit ihrem schlangenhaften Hüftschwung auf ihr Publikum zuging, schauten sie einfach alle an. Dazu dieses ewige, kleine Lächeln, das beständig sagte „Ich weiß etwas, dass ihr alle nicht wisst. Soll ich euch davon erzählen?“ Klar sollte sie, besonders hier und heute.

Samoka tat, als blickte sie einmal in die Runde der 200 Anwesenden und tatsächlich hatte jeder dort unten im Saal das Gefühl, als hätte die Frau auf der Bühne für einen kurzen Augenblick ihn ganz persönlich gemeint. „Wow!“, begann sie und spielte die Verlegene, „sie sind der vermutlich hochkarätigste Haufen Eierköpfe, den ich je in meinem Leben begrüßen durfte.“ Ein paar Lacher und gespannte Aufmerksamkeit waren die Antwort. Die meisten Anwesenden waren nur ansatzweise darüber informiert worden, worum es hier ging. Allen war vom Wissenschaftsrat gesagt worden, dass es sich um ein Problem höchster Dringlichkeit handeln würde und dass ihre Hilfe unerlässlich sei. Und so waren sie hier, Ahnen, Ramaner, Terraner und Marsianer, Tromburianer, Talniri, Blue und selbst Andromedianer hatten sich eingefunden. In diesem Publikum waren die besten Physiker, Biologen, Kosmologen, Mediziner, Mathematiker und Historiker des Menschenvolkes versammelt. Und Samoka Lee hatte sie gerade pauschal als Eierköpfe bezeichnet – einfach nur, um ihnen klar zu machen, dass hier keiner die Primaballerina spielte oder eine Extrawurst bekommen würde. Die Psychologen im Saal durchschauten den Trick freilich sofort. Sie waren es dann auch, die lachten.

„Haben sie schon einmal etwas über Hyperfunk gehört?“, fragte Samoka und ließ wieder den Blick schweifen, der jeden traf. Anstelle einer Antwort erntete sie die neugierigen Blicke von 200 Augenpaaren. „Nein? Aber doch zumindest schon mal bei The unknown Universe kurz wahrgenommen, oder?“ Die Augenpaare klebten weiter an ihr, ohne dass sie eine Antwort auf ihre Frage bekam. „Ich spreche über die verzögerungsfreie Übertragung von Informationen über beliebige Entfernungen. Und ich spreche darüber, dass wir das nicht erst erfinden müssen, sondern bereits erfunden haben!“ Auf dieses Stichwort hin erhob sich nun doch überraschtes Gemurmel im Saal und Gorl gab ein paar Befehle mit seinem Fingersensor an den Sender im Stationslabor. Auf der Bühne entstand ein Hologramm und Padro–Tel, der 1. Sprecher des Wissenschaftsrates stand in bemerkenswerter Klarheit da. Er nickte Samoka kurz zu, die dem Holgramm einen unauffälligen Fingerzeig in Richtung Publikum gab, denn das konnte der 1. Sprecher aus seinem Büro in Gor-Krapur aufgrund der Kameraeinstellung nicht sofort sehen. Padro – Tel wendete sich der Zuhörerschaft zu und rief einen Namen in den Saal, von dem er wusste, dass sein Träger sich in der Menge befand. „Juri Gandibula, wie spät ist es bei ihnen?“ Der Angesprochene kam nach vorn und kramte eine absolut altertümliche, mechanische Taschenuhr aus seiner Bordkombi. „Diesem Instrument zufolge ist es 20:43h MWST.“ (MWST = Milky Way Standard Time). „Danke Juri, bei mir hier auf Trombur ist es nur eine Minute früher, was ich aber ihrem antiken Zeiteisen zuschreiben darf. Wir unterhalten uns also in Echtzeit und ich werde den Rest des Abends hier mit ihnen verbringen.“ Jetzt war die Menge wirklich überrascht. Samoka lächelte und sagte „Danke Padro. Sie sind uns auch in photonischer Form sehr willkommen.“ An das Publikum gewandt merkte sie an, dass ihr neuer Podiumsgast von nun an live an der Besprechung teilnehmen würde. Die lächerlichen 2900 Lichtjahre bis nach Trombur seien da schließlich kein Hindernis. „Ich fürchte allerdings, wir sind noch nicht ganz vollständig.“, sagte Samoka. Gorl stand auf, verließ rasch den Saal und begab sich zu seinem Hypersender.

03.11.1935, Schloss Czartoryski, Polen

Das Schloss in dem abgelegenen Städtchen Puławy war das ideale Hauptquartier für die Grupa. In den vergangenen Nächten hatte eine Fernmeldekompanie der Armee, von der Bevölkerung unbemerkt, neue Telefonleitungen zum Schloss gelegt und eine komplette Funkstation installiert. Im Schloss selbst gab es genug ungenutzte Räume, um Büros einzurichten. Auch die weitläufigen Keller des Adelssitzes boten gute Möglichkeiten für Werkstätten und Laboreinrichtungen. Jeder Fachbereich erhielt so geeignete Räumlichkeiten und war nicht weit bis zu den einsamen Übungsgebieten in den Regionen Polesie und Wolyn. Brent und Andreij stellten Teams zusammen, die abseits aller Taktischen Vorgaben und jeder traditionellen Kriegsführung darüber nachdenken sollten, welcher deutschen Waffe man am wirkungsvollsten mit einem polnischen Gegenstück begegnen konnte. Dabei stand den Professoren, Studenten und Soldaten der Grupa Brents umfangreiches Material über die Waffen des ausgehenden 20. Jahrhunderts zur Verfügung. Brent hatte den ganzen Tag damit zugebracht, mit den Gruppenleitern über Ideen und Möglichkeiten zu diskutieren. Das war streckenweise äußerst ermüdend, da beispielsweise die polnischen Militärs zu nationalistischer Prahlerei neigten, während die Gelehrten sofort die Ressourcenarmut der zweiten Republik hervorhoben, um zu erklären, warum was nicht ging. Einzig die Studenten in den Grupas waren enthusiastisch genug, um einfach loszulegen.

Brent ging in den Garten des Schlosses und suchte sich eine ruhige Ecke. Trotz der inzwischen herrschenden Kälte setzte er sich auf eine Bank und ließ die Ruhe auf sich wirken. Er dachte darüber nach, ob diese Typen aus der Zukunft wieder bei ihm auftauchen würden. Oder besser gesagt, er bei ihnen. Auf der einen Seite fühlte sich Brent in seiner neuen Rolle als Retter der Welt insgeheim ganz großartig. ‘Der Mann, der den 2. Weltkrieg verhindert hat!’ würden die Zeitungen titeln. Quatsch! Welche Zeitungen? Und in welcher Zeit? Wenn er den Krieg jetzt tatsächlich frühzeitig beenden würde, würde kein Geschichtsschreiber jemals von einem 2. Weltkrieg sprechen. Die Geschichte würde eine andere sein. Was auch nicht ganz richtig war, denn nicht die Geschichte, sondern die Zukunft würde anders sein. Die Geschichte hatte er bereits hinter sich, die Zukunft lag, weitgehend unbekannt vor ihm.

Auf der anderen Seite vermisste er Kathleen, England, die Burger von Wimpy und das Samstagsspiel in der Premier League. Würde man ihn jetzt vor die Wahl stellen, würde er sofort zurückgehen und zwar 64 Jahre vorwärts. Aber die Aliens hatten sich schon länger nicht gemeldet. Gab es die überhaupt? Oder war das alles hier nicht doch eine Illusion? Illusionen dauerten nicht monatelang, Illusionen konnte man nicht riechen, schmecken, hören, sehen und fühlen und Illusionen fingen auch keine Kriege an. Brent ging müde zurück in sein Zimmer und legte sich auf sein Bett. Er verscheuchte die Gedanken an seine Lage und dachte an Kathleen. Ihr Gesicht erschien vor seinem geistigen Auge, als ihr nackter Körper sich über ihn beugte. Brent schluckte und registrierte schlagartig, dass er ein lang unterdrücktes Verlangen nach Sex hatte. Das war weder verwunderlich, noch irgendwie überraschend für ihn. Er hatte schon seit Monaten nicht mehr mit einer Frau geschlafen. Das hatte er auch schon gespürt, als ihn diese Aliens zum zweiten Mal geholt hatten und diese Samoka Lee vor ihm stand. Das Bild dieser Frau tauchte in seinen Gedanken auf. Sie war irgendwie überirdisch schön. Brent versuchte sich vorzustellen, wie Samoka nackt aussehen müsste. Bevor sich dieser Gedanke irgendwie verfestigen konnte, schlief Brent ein.

Wie lange hatte er geschlafen? Ein paar Minuten? Eine Stunde? Brent wusste es nicht, war aber schlagartig wach, als das Gefühl, ausgesaugt zu werden ihn mit voller Wucht traf. Die Leute aus der Zukunft riefen ihn. Als Brent wieder klar sah, befand er sich in dem komischen Labor, das sich angeblich auf einer Raumstation irgendwo im All befinden sollte. Vor ihm stand einer von den Typen, die er schon kannte und schaute ihn besorgt an. „Guten Abend Mr. Spiner. Geht es ihnen gut?”, fragte der Mann in seinem merkwürdig gefärbten Englisch. Brent straffte sich und antwortete bissig „Danke, dass sie mich aus dem Schlaf reißen, wann immer es ihnen passt! Ich kann nicht behaupten, dass Besuche bei ihnen eine angenehme Erfahrung für mich sind.” Der Mann vor ihm nickte betrübt. „Stimmt, für sie ist das immer eine böse Überraschung. Offen gestanden wissen wir im Moment so wenig über ihre Situation und wie sie dort hinein geraten sind, dass es uns schon wie ein Wunder erscheint, überhaupt mit ihnen in Kontakt treten zu können. Eines könnten wir allerdings regeln, wenn sie mir das Datum und die ungefähre Zeit in Polen mitteilen, aus der ich sie gerade geholt habe. Wir können dann ihre Eigenzeit verfolgen und mit ihnen absprechen, wann wir sie das nächste Mal rufen. Dann sind sie vorbereitet.” Brent nickte. Schien so, als wollten ihm diese Leute wirklich helfen. „3. November 1935, ca. 23:00h”, brummelte Brent, immer noch leicht verärgert. Der Fremde zeigte mit dem Finger in Richtung eines großen Monitors, der die halbe Wand einnahm. Er machte ein paar kleine Bewegungen in der Luft, was auf dem Monitor zum Start einer Software führte, die Brent an eine Tabellenkalkulation erinnerte. Der Fremde sagte das Datum, welches Brent ihm genannt hatte und dann noch den Satz „Synchronisieren mit lokaler Jetztzeit”. Dann wandte er sich wieder Brent zu, lächelte und bemerkte „So, jetzt wissen wir immer, wie spät es bei ihnen gerade ist.”

Im Saal diskutierten Samoka und Jeff gerade über die Möglichkeiten des Hyperfunks und entwarfen für die Zuhörer Anwendungsmöglichkeiten, wie beispielsweise ein galaktisches Internet. Gedro stellte planmäßig die Frage, ob schon bekannt sei, mit welchen Risiken, die neue Technik verbunden sei. Janita ging auf die Frage ein und berichtete über den fehlgeschlagenen Sendeversuch. Samoka übernahm es, Brent Spiner in das Gespräch einzuflechten und über das Verschwinden und sein jetziges Wirken zu reden. Als sie fertig war und die Situation in Polen im Jahr 1935 sowie Spiner’s Absichten verdeutlicht hatte, sagte im Saal jemand laut und vernehmlich „Jetzt ist mir klar, weshalb wir hier sind! Man, das ist ja echt hammerkrank!”

Das Hologramm von Padro – Tel erhob sich und schaute in die Menge. „Hammerkrank ist vielleicht eine etwas saloppe Umschreibung unserer Situation. Wenn ‘hammerkrank’ aber meint, dass wir nicht wissen, was gerade geschieht und wie diese Geschichte ausgeht, dann haben sie natürlich recht.” Padro – Tel wandte sich an Samoka und deutete auf die Projektoren, die auch sein Abbild erzeugten. „Ich denke, wir haben noch einen Besucher, nicht wahr Mrs. Lee?” Samoka nickte und wandte sich wieder dem Publikum zu. „Der Mann, der jetzt zu ihnen kommt, ist nicht wirklich bei uns. Wir können ihn nur ein teilweise über den Spin seiner Bosonen zu uns holen. Außerdem hat er die unangenehmste Anreise hinter sich. Er kommt nämlich aus der 234 Jahre zurückliegenden Vergangenheit zu uns. Ich darf ihnen Mr. Brent Spiner vorstellen!”
Gorl hatte Brent in der letzten halben Stunde, bevor sie auf das Podium ‘traten’ vorbereitet. Er hatte mit Brent besprochen, dass er den anwesenden Wissenschaftlern seine Situation und seine Absichten erklärte. Er hatte ihm weiterhin erklärt, dass im Sitzungssaal eines angekoppelten Raumschiffes mit dem Namen Robert Zubrin die Wissenschaftliche Elite des Galaktischen Bundes versammelt war. Brent hatte ihn darauf angesehen, wie jemanden der nicht ganz dicht sein konnte. Der Name Robert Zubrin kam Brent allerdings irgendwie bekannt vor, als wenn er den schon mal auf einem Buchttitel oder einer Webseite gelesen hatte. Gorl musste kurz nachdenken, denn er kannte Zubrin aus dem Geschichtsunterricht nur als Präsidenten der ersten Marsrepublik. Das war im Jahr 2002 gewesen. Was war der Zubrin doch gleich 1999 gewesen? Ach ja, Vorsitzender der Mars Society in den damaligen USA. Daher kannte Brent den Namen vermutlich. Gorl gab dem Computer wieder ein paar Zeichen mit dem Finger. Brent fand das offenbar lustig und erkundigte sich bei Gorl danach, wie das funktionierte. „Wie funktioniert das? Habt ihr alle einen Chip im Hirn und einen Sensor im Finger?” Diesmal lachte Gorl amüsiert. „Nein, Computer arbeiten schon lange nicht mehr mit diesen Prozessoren, die sie als Chips bezeichnen. Das hier ist ein Quantenprozessor mit einer fünfdimensionalen Unwahrscheinlichkeitsanalyse auf optischer Basis. Meine persönlichen Körperschwingungen sind in dem Rechner gespeichert, so dass er mich erkennt. Alles was sich in der Haut meines Fingers befindet, ist ein Nanonetzwerkadapter, damit ich mich von überall im Umkreis von 200.000 Kilometern mit dem Teil hier verbinden kann.”, teilte er Spiner mit. Der sah ihn wieder an, als ob Gorl eine gehörige Macke haben musste und meinte spöttisch „Und vermutlich kann das Ding Gedanken lesen und tut, was sie denken, oder?”
Gorl machte eine gelangweilte Geste und antwortete eher beiläufig „Direkt lesen nicht, aber die Kiste analysiert meine Gehirnaktivität und stellt einen Zusammenhang mit meinen Worten und Gesten her und ‘weiß’ dann quasi, was ich will.” Darauf gab Brent nur ein kurzes „Aha, ihr seid ja ganz schön schräg drauf.” zurück. Gorl erhob sich und sagte „Ich projiziere jetzt ihr Hologramm in den Sitzungssaal und umgekehrt den Saal zu ihnen zurück, so dass sie sehen, wo sie sich befinden und was um sie herum vorgeht. Sind sie bereit?” Brent nickte, was Gorl mit einem weiteren Fingerzeig quittierte. Von einem Augenblick auf den anderen wechselte die Szenerie. Gorl war verschwunden, stattdessen tauchte direkt vor ihm Samoka Lee auf. Erst einen Augenblick später, stellte er fest, dass er sich auf einer Bühne befand und sah eine Art Podiumsrunde aus mehreren Personen und eine ganze Menge Leute unten im Saal. Alle waren merkwürdig gekleidet und hatten teilweise recht auffällige Hautfarben. Von durchscheinend weiß bis zu völligem Schwarz war alles vertreten. Brent hörte Samoka Lee’s Stimme, die sagte „Guten Abend Mr. Spiner. Ich hoffe, sie haben die Reise zu uns gut überstanden?” Wäre Brent’s Abbild nicht ohnehin sehr blass und durchscheinend gewesen, hätte sie Brent erröten sehen. Da stand er in einem Raumschiff in der Zukunft vor der geistigen Elite der Menschheit und hatte die Frau vor sich, die er vor einer halben Stunde noch nackt in seinen Träumen sah.

„Mr. Spiner? Ist alles in Ordnung?”

Samokas Stimme drang nur langsam zu Brent’s Bewusstsein vor. Er schüttelte kurz den Kopf, fing sich wieder und antwortete dann überraschend klar „Guten Abend Mrs. Lee. Machen sie sich keine Sorgen. Mit mir ist alles okay. Es ist nur jedes Mal eine erhebliche Orientierungsleistung, wenn sie einfach so von einer Zeit in die anderen und von einem Ort zum nächsten katapultiert werden.” Samoka nickte verständnisvoll und schenkte ihm ein Lächeln, das man unter den gegebenen Bedingungen nur als Folter bezeichnen konnte. Dann stellte sie Padro – Zel vor, wobei sie natürlich noch einmal betonte, dass der sich zurzeit auf dem 2.900 Lichtjahre entfernten Planeten Trombur aufhielt und sein Hologramm trotzdem in Echtzeit hier zu sehen war. ‘Schade, ’ dachte Brent, ‘so schön und genauso eine Macke, wie der Typ im Labor.’ Raumstationen, Hyperfunk, nach irgendwelchen Spinnern benannte Raumschiffe: Was war das hier für ein Bullshit? Okay, 4 Jahre vor Beginn des 2. Weltkrieges in dem Land zu stranden, das als erstes von den Nazis überrannt werden würde (oder vor 230 Jahren wurde?!), war nicht weniger unglaublich.

„.....was bedeuten würde, dass Mr. Spiner hier die Geschichte, die uns hervorgebracht hat, nachhaltig zu verändert. Wir können zurzeit nicht einschätzen, ob sich unsere bereits stattgefundene und Mr. Spiners veränderte Geschichtsverläufe untereinander beeinflussen können, da uns die kausalen Zusammenhänge vollkommen unbekannt sind. Vielleicht entstehen zwei parallele Zeitlinien, die sich nie berühren. Vielleicht beginnen sich die Ereignisse der tatsächlichen Vergangenheit und der von Brent Spiner erzeugten aber auch untereinander zu durchmischen, was nicht abschätzbare Folgen haben kann.” Sita Myhrre machte eine Pause und blendete ein holografisch erzeugtes Diagramm ein. „Zurzeit merken wir nur deshalb noch nichts von Mr. Spiners Handeln, weil er sich in einem kleinen, in sich geschlossenen Personenkreis aufhält, der die Geschichte noch nicht aktiv beeinflusst. Das wird sich jedoch ändern, sobald diese Grupa ......ääh.......Pritschelotsch.....”

„Przyszłość”, warf Brent ein, „Grupa Przyszłość”

Sita nickte ihm dankbar zu und versuchte es noch einmal, was auch nicht viel besser klang. „Sobald diese Gruppe damit anfängt, mehr und mehr Menschen in ihre Arbeit einzubeziehen, steigt die Anzahl der geschichtsverändernden Ereignisse massiv an.“ Sie folgte mit dem Finger dem Diagrammverlauf, der die von Gorl berechnete Beziehung zwischen den Faktoren Zeit, beteiligte Personen und Anzahl der Ereignisse darstellte. „Wenn sie so weitermachen, Mr. Spiner, “ stellte sie an Brent gewandt fest, „müssen wir in etwa einem Jahr mit katastrophalen Auswirkungen auf unsere heutige Zivilisation rechnen.“

Aus der Menge kamen Rufe wie „Spiner muss sofort aufhören“ oder „Holt den da so schnell wie möglich raus!“ Sita nahm die Einwürfe auf und wandte sich wieder Brent zu. „Mr. Spiner, das ist genau der Punkt. Alle diese Menschen hier arbeiten daran, sie schnellstmöglich wieder in das Jahr 1999 zurückzubringen. Aber bis dahin müssen sie alle Aktivitäten, die den Verlauf der Geschichte auf der Erde verändern, strikt unterlassen!“

Brent’s Hologramm sah sie eine Weile lang an und sagte dann mit seiner einschmeichelnden Stimme: „Wie alt mögen Sie sein? Anfang 30? Wie mögen Sie aufgewachsen sein? Unter dauerhaft lebensbedrohlichen Umständen? Unter Napalmbomben und Panzergranaten? Nein junge Dame, so sehen sie mir nicht aus. Sie haben also keine Ahnung, was es für die Erde 1939 bedeutet hat, als die Nazis und der Tenno sie in Brand steckten. Sie haben keine blasse Vorstellung davon, was 60 Millionen Tote sind! Was Hundert Millionen Verletzte und Verkrüppelte bedeuten. Ganze Völker, die fast ausgerottet oder aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sie wissen nichts, denn es betrifft sie nicht. Sie wollen nur mögliche Folgen, von denen sie noch nicht mal wissen, ob sie eintreten werden verhindern, damit ihr hübscher, kleiner Arsch weiterhin schön warm und trocken bleibt!“

Brent schaute in den Saal und rief fest entschlossen „Ich werde nicht aufhören! Wenn ich diese Katastrophe irgendwie von den Menschen abwenden kann, dann werde ich das tun. Und wenn in ihrer leuchtenden Zukunft hier noch irgendjemand Begriffe wie Verantwortung und Moral kennt, würde dieser Jemand nicht anders handeln!“

Damit drehte sich Brent Spiner um, und ging scheinbar auf die Rückwand der Bühne zu. Nur Gorl wusste, was Brent gerade tat. Er entfernte sich vom Hypersender im Labor und damit von den Zwillingsbosonen, die es möglich machten, sein Abbild dort zu materialisieren. Kurz bevor er an Samoka Lee vorbei kam, verblasste seine durchscheinende Gestalt vollends und verschwand.

17.11.1935, Schloss Czartoryski, Polen

Andreij Tadicz hatte Brent selten so dynamisch erlebt, wie in den vergangenen zwei Wochen. Der Mann aus der Zukunft hatte in dieser Zeit Entwürfe für ein Strahlflugzeug, einen Schützenpanzer, einen Minenwerfer und ein komisches Ding, dass er Helikopter nannte fertig gestellt. Der Brite war andauernd damit beschäftigt, die Mitglieder der Arbeitsgruppen anzutreiben, Modelle zu bauen, Ressourcen zu organisieren oder Dinge zu berechnen, die praktisch unmöglich erschienen. Tadicz gelangte irgendwie zu der Auffassung, als ob Brent wütend sei und fragte ihn danach. Brent gab ihm keine direkte Antwort. Bislang hatte er mit niemandem hier über seine unfreiwilligen Ausflüge in die Zukunft gesprochen. Er zog Tadicz zu einer Konstruktionszeichnung, die achtlos auf einem Tisch herumlag und schrieb in eine Ecke: 20:00h, Kossak. Der junge Graf war die einzige Person hier, der er tatsächlich vertraute und Brent war sich sicher, dass sein Freund den Hinweis auf der Zeichnung richtig deuten würde. Gut drei Stunden später betrat Andreij Tadicz den Raum in dem 3 Gemälde von Juliusz Kossak hingen. Brent war bereits dort und hatte eine große Flasche Wodka und zwei Gläser dabei. „Komm her Andreij, ich muss dir was erzählen, das noch viel unglaublicher klingt, als meine Reise hierher. Wahrscheinlich wirst du mich für völlig beschränkt halten.” Tadicz setzte sich und, nahm die Flasche und füllte die Gläser. Bevor er ein Glas an Brent weiter reichte, machte er mit einem Bleistift einen Strich auf dem Etikett der Wodkaflasche, der etwa die halbe Flaschenhöhe markierte. „Dann fang erst an zu reden, wenn wir uns bis zum Strich runter gesoffen haben, okay?”

„Und die Obcy holen dich, weil sich deine Atome verändern können?” fragte Andreij mit belegter Stimme, nachdem Brent seine Geschichte von den Aliens auf der Raumstation und den letzten Ereignissen dort beendet hatte. „Nicht ganz, ” lallte Brent zurück, „sie nutzen den Spin meiner Zwillingsbosonen von diesem blöden Fehlsignal, die über 3000 Lichtjahre verteilt im Weltraum rumgeistern.” Andreij starrte die Tür an und versuchte sich zu konzentrieren „Zwillingsmormonen? Sie machen das mit Religion?” Der junge Pole sah sein Gegenüber aus glasigen Augen an. Brent lachte „Nicht Mormonen, Bosonen! Das sind Elementarteilchen, deren Spin ganzzahlig ist.” Andreij schüttelte den Kopf, goss neuen Wodka in die Gläser und meinte nur, „Du bist ja wirklich total besoffen, mein Freund.” Damit war das Thema für den jungen Grafen erledigt.

Irgendwann gegen Morgen wankten zwei sturzbesoffene Gestalten durch die Gänge des Schlosses. Weil sie dabei nicht unbedingt die Leisesten waren, wurde die Wache recht schnell auf sie aufmerksam. Mit dem Ergebnis, dass sich beide gegen Mittag des nächsten Tages in einer Arrestzelle wieder fanden. Weit schlimmer als das, waren allerdings die Kopfschmerzen. Andreij wälzte sich von seiner Schlafkoje und schaute Brent aus rotgeränderten Augen an „Zwillingsbosonen, ganzzahliger Spin? Was hast du mir letzte Nacht eigentlich für einen Scheiß erzählt?” Dann stand er mühsam auf und klopfte so energisch es ihm möglich war gegen die Zellentür. Ein mürrischer Wachmann öffnete die Tür und führte beide in das kleine Wachbüro. Dort musste Andreij beim Wachhabenden einen Eintrag im Wachbuch quittieren und die Sache war erledigt. „Was hast du da unterschrieben?” wollte Brent wissen. „Wenn jemand eingebunkert wird, muss es dafür einen Grund geben. Und wenn du wieder raus willst, musst du das per Unterschrift bestätigen.” Brent nickte müde. „Und was hast du bestätigt?” Tadicz lächelte schief und sagte „18.11.1935, 02:48h, Zwei Personen, männlich, Andreij Tadicz und Brent Spiner, wegen nächtlicher Ruhestörung unter erheblichem Alkoholeinfluss eingeliefert in Zelle 1.” Andreij’s Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich. Er wirkte besorgt. „Was geschieht eigentlich, wenn diese Zukunft-im-Quadrat-Typen dich wieder in deine Zeit zurückbringen? Ich meine, was wird dann aus uns?”

Brent antwortete nicht sofort darauf. Tadicz hatte Recht. Was, wenn dieser Gorl und seine Leute einen Weg fanden, um ihn wieder nach 1999 zurückzubringen? Was, wenn ihnen das morgen gelingen würde? Wäre es noch dasselbe 1999 aus dem er gekommen war? Oder hatte das, was er hier begonnen hatte, die Zukunft schon verändert? Theoretisch bestünde die Möglichkeit, dass selbst kleinste Änderung in der Abfolge der historischen Ereignisse, drastische Auswirkungen auf alle nachfolgenden Ereignisse haben konnte. Brent dachte an das Schachbrett und die Reiskörner. Wenn eine Handlung, die er 1935 beging zwei unmittelbare Folgehandlungen nach sich zöge und diese wiederum jeweils zwei Folgehandlungen, dann reichten die Handlungen seit seiner Ankunft bereits aus, um eine völlig veränderte Zukunft hervorzubringen.

Brent schüttelte den Kopf. Darüber detailliert nachzudenken, musste irgendwo zwischen Kopfschmerzen und Wahnsinn enden. Kopfschmerzen hatte er schon und Wahnsinn war im Grunde genommen alles, was ihm in den letzten Monaten passiert war. Also sagte er müde „Ich weiß es nicht Andreij. Ich bin wenigsten in der Lage, meine Situation zu beeinflussen.” Tadicz nickte, straffte sich und sah mit verkniffenen Augen den Flur hinunter „Stimmt! Und genau aus diesem Grund müssen wir Bronikowski über diese Möglichkeit informieren.”

Eine halbe Stunde später verließ der Andreij Tadicz sein Zimmer. Seine Uniform saß, wie auf den Leib geschneidert (was sie auch war), die als Folge der letzten Nacht vorhandenen Augenränder waren einem Schwall eiskalten Wassers gewichen. Tadicz bog um die Ecke und nahm die Treppe in den 3. Stock. Dort hatte der Geheimdienst zwei Zimmer bezogen. Marek Bronikowski stand in seinem Büro am Fenster, als der Graf eintrat. Er drehte sich nur kurz zu Tadicz um und grinste, was er sehr selten tat. „Guten Morgen, mein durchlauchter Knastbruder. Wie war die Nacht?” Anstelle des erwarteten ‘Frag mich nicht’ oder ‘Auch schon gehört’, sagte Tadicz mit erstaunlich frischer Stimme „Guten Morgen! Die Nacht? Nun, sie war ereignisreich und für uns unter Umständen von fundamentaler Bedeutung.” Bronikowski sagte nichts, sondern zog einen Stuhl für Andreij heran und verlangte mit schmerzhaft lauter Stimme nach zwei Tassen Kaffee. „Erzähl, was hatte die Nacht, ausgenommen von Wodka und einer Arrestzelle, noch zu bieten?”

Nachdem Andreij seinen Bericht über Menschen aus der fernen Zukunft beendet hatte, die daran arbeiteten, Brent Spiner wieder in seine Zeit zurück zu bringen, wirkte Marek Bronikowski verlegen. Der sonst so undurchsichtige, selbstsichere Mann zeigte offen Besorgnis und Ratlosigkeit. „Hat Spiner irgendetwas darüber gesagt, wie weit diese Leute sind?” fragte er, während er nervös auf die Tischplatte trommelte. „Nein, Brent weiß nur, dass die mit Hochdruck daran arbeiten.” Bronikowski verschränkte die Arme vor der Brust, starrte, wie bereits bei Andreijs Eintreffen aus dem Fenster und zählte 1 und 1 zusammen. „Spiners technologischer Vorsprung vor uns beträgt 64 Jahre. Deren Vorsprung vor Spiner macht noch einmal 170 Jahre aus, wobei man berücksichtigen muss, dass die technische Entwicklung sich kontinuierlich beschleunigt. Wir können also ohne jede Übertreibung annehmen, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die uns technisch um 300 Jahre voraus sind.” Andreij trat ebenfalls an das Fenster und starrte in den Schlossgarten. Vor seinem geistigen Auge sah er die deutschen Panzer durch die kunstvoll angelegten Grünanlagen walzen und hörte die peitschenden Abschüsse der Kanonen. Er schüttelte sich, wich über sich selbst erschrocken vom Fenster zurück und murmelte „Wir können quasi gar nichts tun. Aber Brent kann es! Er kann mit denen reden, wenn sie ihn rufen.” Auch das ließ Marek Bronikowski nicht glücklicher aus dem Fenster starren. „Deren Auffassung kennen wir ja. Die wollen, genau wie wir ihren Arsch retten. Nur unserer wird sehr direkt bedroht, während die vermuten, dass ihrer vielleicht bedroht sein könnte. Da wir keine andere Wahl haben, werden wir über Brent Spiner mit ihnen reden müssen. Zudem sollten wir unser Programm hier massiv beschleunigen und versuchen, soviel von Spiners Wissen zu bekommen, wie es uns möglich ist. Wir brauchen möglichst viele Konstruktionszeichnungen, Werkstoffdaten, Formelsammlungen und all dieses Zeug. Wir verdoppeln die Anzahl der Studenten, die das ganze Material abzeichnen und lassen mehr Fotografen kommen, die möglichst viel von Brents Computerbildschirmen abfotografieren. Wir erweitern die Dunkelkammern im Keller. Zudem werde ich 20 weitere Agenten ordern, um die Sache hier geheim zu halten.” Der Geheimdienstmann griff zum Telefon und gab die entsprechenden Anweisungen an das Biuro 5 in Warschau durch.

Hindernisse

07.10.2169, Ministerium für Katastrophenschutz, First Village, Planet Mars

Die Arbeit der Rechtsabteilung konnte sich durchaus sehen lassen. Anta-kal-Teps Mitarbeiter hatten eindeutig ergründet, dass die Arbeiten auf Camp Tschao eine Gefahr darstellten. Zudem hatte ein Risiko-Bewertungsteam, das in der Hauptsache aus Wirtschafts-, Agrar-, und Gesellschaftswissenschaftlern bestand ermittelt, dass die Risiken der Versuche auf der Raumstation nicht abschätzbar seien und quasi jeden Menschen betreffen könnten. Wie sich gezeigt hatte, nicht nur heute lebende Menschen, sondern auch Menschen aus der Vergangenheit. Nun konnte man für das Verbrechen, welches dieser Teraschnek–Gorl Moiseyenko an dem Mann aus dem 20. Jahrhundert verübt hatte, niemanden zur Verantwortung ziehen. Das lag einfach nicht im Verantwortungsbereich der heute zuständigen Stellen. Sehr wohl aber konnte man es als Straftat einstufen. Und da die Experimente fortgeführt wurden, lag für die Ministerin klar auf der Hand, dass hier weitere Straftaten vorbereitet wurden.

Und das konnte und wollte sie unter allen Umständen unterbinden.

09.10.2169, Raumstation Camp Tschao

Die Kybernetikerin aus Elaja’s Town wedelte aufgeregt mit den Armen, während sie lautstark mit Gedro und Jeff diskutierte. Samoka wollte zunächst einfach weiter gehen, um nicht mit in den offensichtlich stattfindenden Streit hineingezogen zu werden, blieb dann aber doch bei der Gruppe stehen „Ich sage euch, ihr seid grundsätzlich auf dem falschen Dampfer!”, zeterte die Frau aus der Andromeda Galaxie, „Ihr geht nämlich vom falschen Ziel aus.” Jeff schien das ganz anders zu sehen, was schon sein vorgerecktes Kinn verriet. „Unser Ziel lautet, Spiner in seine Zeit zurück zu bringen, bevor er unsere Zeit kaputt gespielt hat. Was soll daran falsch sein?”, fragte er betont patzig zurück. „Na alles, ihr wandelnden Verständnisdefizite. Wir müssen den Kerl nicht zurückbringen, wir müssen verhindern, dass er überhaupt in diese verlauste Vergangenheit abfliegt, du intellektreduzierte Schimpansenkopie!” Die Frau starrte erst Jeff und dann Gedro herausfordernd an. Die starrten zurück, was schließlich dazu führte, dass alle drei Samoka ins Visier nahmen. Und die? Samoka nickte bedächtig und ließ dieses kleine, wissende Lächeln ihre Mundwinkel umspielen. Dann sagte sie einfach: „Da hat sie Recht.”

Samoka wartete die Reaktion erst gar nicht ab, sondern machte eine ziemlich eindeutige Handbewegung in Richtung von Gorl’s Labor. „Na los, ein bisschen flotter, wenn ich bitten darf! Das müssen wir sofort mit Gorl besprechen.”

Gorl brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was die Andromedianerin ihm gerade mitgeteilt hatte. Aber sie hatte tatsächlich Recht. Würde man Spiner zu einem Zeitpunkt X aus der Vergangenheit zurückbringen, ergäbe das ein paar höchst paradoxe Probleme. Brent Spiner galt in seiner Zeit als tot. Umgekommen bei einem Meteoriteneinschlag. Was, wenn er plötzlich wieder auftauchte? Dann würde er sich natürlich an seinen Aufenthalt in der Vergangenheit erinnern können. Im Jahr 1999 Grund genug, ihn in die geschlossene Psychiatrie zu verfrachten. Und er würde die historischen Abläufe massiv verändert haben.

Wenn er aber gar nicht erst verschwinden würde, wenn ihn das Fehlsignal an diesem Septembertag im Jahr 1999 nicht treffen würde, dann gäbe es auch überhaupt kein Problem! Nichts würde geschehen, wenn Gorl’s Fehlversuch erst gar nicht stattfände oder wenn das Signal Spiner nicht gar nicht erst träfe. Bislang hatten alle hier auf der Station über Verfahren nachgedacht, mit denen man Brent Spiner aus dem Jahr 1935 in das Jahr 1999 bringen konnte. Jetzt galt es, zu verhindern, dass Gort das Fehlsignal sendete, oder dass Spiner erst gar nicht verschwand. Wenn das gelang, bliebe nur eine Frage offen: Was geschah mit dem Brent Spiner, der seit Monaten im Polen des Jahres 1935 wirkte? Der war ja schon da. Und auch wenn man Spiners Verschwinden vor 170 Jahren verhindern könnte, dann täte man das von heute aus absolut betrachtet in der Zukunft. Gäbe es dann zwei Brent Spiners? Und bestünde die Möglichkeit, dass sich beide begegnen könnten? Was würde mit den Ereignissen passieren, die bereits stattgefunden hatten, wenn Spiner gar nicht in die Vergangenheit reisen würde, in die er tatsächlich aber schon gereist war? 200 Eierköpfe zerbrachen sich die Köpfe über diese Fragen. Und soweit man überhaupt ein Fazit des heutigen Tages ziehen konnte, dann das, dass es auch 200 Meinungen zu dem Thema gab.

Große Schritte

24.11.1935, Rohrfabrik, Sosnowiece, Polen

Der Fertigungsleiter schüttelte immer wieder den Kopf. Ein solches Rohr könne man nicht fertigen, ließ der rundliche, vertikal zudem noch stark benachteiligte Mann Professor Urbanski wissen. Die Toleranzen seien viel zu eng, die geforderte Härte und Festigkeit zu hoch und um die geforderten Züge nach der Wärmebehandlung in das Rohr zu schneiden, gäbe es keine geeigneten Drehstähle. Urbanski nickte verständnisvoll, legte dem Mann die Hand auf die Schulter und zog ihn in einen abgelegenen Winkel der Fertigungshalle. „Schauen Sie Mateusz, ich brauche so ein Rohr. Und wenn Sie es jetzt nicht fertigen können, dann sagen Sie mir zumindest, was Sie brauchen, um es zu bauen.” Der Rundliche zog einen schmierigen Notizblock aus seiner nicht weniger schmierigen Kitteltasche. Von irgendwoher förderte er einen Kohlegriffel zutage und begann zu schreiben, zu rechnen und kleine Skizzen zu zeichnen. Zwischendurch gab er gemurmelte Laute von sich, die Urbanski als „Aha”, „HmHm” und „Unmöglich” deutete. Mateusz riss schließlich drei Zettel von seinem Block ab und reichte sie dem Professor mit der Anmerkung, dass dieser schon allmächtig oder stinkreich sein müsste, um die Dinge auf der Liste zu besorgen. Urbanski schaute die Zettel kurz an und sagte nur, „Nächste Woche haben Sie die Sachen. Dann werde ich wieder hier sein. Do widzenia!” Damit drehte er sich um und verließ die Fabrik. Er hatte heute noch zwei weitere Termine dieser Art vor sich. Da blieb wenig Zeit für längere Gespräche. Die Grupa Przyszłość hatte damit begonnen, die ersten Entwürfe für neue Waffen in die Tat umzusetzen. Das waren zunächst ein Radpanzer mit einer Maschinenkanone und Panzerfäusten, ein Düsenflugzeug für verschiedene Aufgaben und ein Mehrfachraketenwerfer. Marek Bronikowski und seine Geheimdienstleute achteten bei den Auftragsgesprächen sehr genau darauf, dass jedes Mitglied der Grupa mit möglichst unterschiedlichen Aufträgen an die Betriebe heran trat und Firmen, die unterschiedliche Komponenten für ein Produkt liefern sollten, weit voneinander entfernt lagen. Niemand sollte die Möglichkeit haben, Zusammenhänge zu bilden, die für die Geheimhaltung schädlich waren. Es würde so zwar eine Weile dauern, bis alle Komponenten für einen Panzer oder ein Flugzeug fertig waren, aber das musste man in Kauf nehmen. Die deutsche Abwehr schlief auch in Polen nicht und war gerade in den letzten Wochen ziemlich aktiv geworden.

18.10.2169, 4. Polizeigeschwader, im Orbit über Talinir

26 Jäger der Nukleon – Klasse umkreisten in exakter Formation den Planeten. Nicolas-Ber-McEwan, der Geschwaderführer erhielt gerade letzte Informationen aus dem Ministerium für Katastrophenschutz auf dem Mars, für das dieser Einsatz geflogen wurde. Die Ministerin persönlich erschien auf dem Monitor und gab präzise Anweisungen, über das Ziel und die in Gewahrsam zu nehmenden Personen. Kurz zuvor traf der Gerichtsbeschluss zur ‘Unterbrechung weiterer Arbeiten an Projekten in Verbindung mit Hyperfunksystemen auf der Raumstation Camp Tschao’ ein. Damit hatte das Polizeigeschwader die Legitimation für den Einsatz, für den die Ministerin jetzt letzte Instruktionen gab. Die Sache an sich war auch etwas Besonderes, wenn man sich sonst hauptsächlich mit Piratenüberfällen oder Schiffsunfällen zu befassen hatte. Eine große Raumstation zu besetzen und zu sichern, hatte da doch eine ganz andere Qualität. Der Großvater des Geschwaderführers war Pilot eines britischen Raumjägers im Krieg gegen die Ramaner gewesen. Er war beim Überraschungsangriff gegen den Raumhafen von Queenx dabei gewesen und hatte mit einem winzigen Jäger eine riesige Flotte aus tausenden von Großkampfschiffen angegriffen. Der Großvater war ein Held, ein Mann von Bedeutung - einer, dessen Namen man mit Ehrfurcht aussprach.

Und heute?

Heute war das Menschenreich bis auf ein paar Piraten und Rebellen so friedlich, wie der Maan – Kajok – See bei Windstille. Für Soldaten und Polizisten gab es in diesem Reich nur wenige Möglichkeiten Bedeutung zu erlangen. Die Ehrfurcht in diesem Reich gehörte den Wissenschaftlern. Sie waren es, die immer neue Erfindungen und Entdeckungen machten, immer weiter und schneller in Raum flogen und die Aberteuer erlebten, die der Geschwaderführer der Talniri - Raumpolizei gern erlebt hätte. Die Helden von heute waren die Eierköpfe von gestern. Aber heute würden sie den Eierköpfen in den Allerwertesten treten. Und sie würden etwas Bedeutendes vollbringen!

18.10.2169, Raumstation Camp Tschao

Seit die umfangreichen Forschungsarbeiten auf der Raumstation begonnen hatten, kam eine Lösung nach der anderen zustande. Zuerst wurde das Problem mit den Fehlsignalen vollständig analysiert und durch eine wirkungsvolle Vorfilterung des Hyperfunks wirkungsvoll beseitigt. Signale, deren Energieniveau oder deren Dauer nicht innerhalb der Parameter lagen, wurden einfach nicht gesendet, so dass Fehlsignale, wie jenes, das zur verheerenden Reise von Brent Spiner geführt hatte, praktisch ausgeschlossen werden konnten. Der entsprechende Bericht war gerade an den Wissenschaftsrat nach Trombur gegangen.

Weiterhin war inzwischen einigermaßen bekannt, inwieweit es überhaupt möglich sein würde, in die Abläufe in der Vergangenheit einzugreifen. Klar war, dass der Transport von Materie, beispielsweise einem Raumschiff, in die Vergangenheit entweder das schlagartige Einwirken von Energie und zwar sehr viel Energie erforderte oder aber eine sehr lange Anflugstrecke vonnöten sein würde. Mit „sehr viel Energie” meinten die Forscher etwas das, was bei einer Supernova freigesetzt wurde. Die „sehr lange Anflugstrecke” bezifferten sie auf etwa 800 Millionen Lichtjahre. Beides konnte auch im Jahr 2169 getrost mit dem Prädikat „undenkbar” versehen werden. Kein Raumschiff und kein Raumfahrer konnten eine Sternexplosion überstehen. Und eine Reise von 800 Millionen Lichtjahren war ebenfalls Science Fiction. Weder die Antriebe, noch die Navigationsgenauigkeit der Menschenschiffe waren für so einen Flug geeignet. Wobei das aber die Alternative war, über die es sich zumindest weiter nachzudenken lohnte.

Neben den Anforderungen an das Raum-, oder besser gesagt Raum-Zeitschiff, gab es noch etliche andere Unwägbarkeiten. Neben der Vorbereitung, Navigation, Kommunikation und Rückkehrmöglichkeiten, stellte vor allem das Weltall an sich die Menschen vor scheinbar unlösbare Fragen. Wie war es in einer Entfernung von 220 Megaparsec beschaffen? War das noch (oder schon?) das Einsteinunsiversum, welches Menschen kannten? War es überhaupt ein für Menschen erfahrbarer Ort?

Vor einer Million Jahren waren Gewässer für Menschen noch keine betretbaren Räume. Ins Wasser zu gehen oder darin zu schwimmen war für den ungeschützten Homo erectus gefährlich, weil es darin große Tiere gab, die ihn lecker fanden, Strömungen, die ihn wegtrieben und Unbekanntes, das ihn in Angst versetzte. Erst die Erfindung des Einbaums machte zumindest Flüsse, Seen und Küstengewässer zu be- und erfahrbaren Regionen. Mit der weiteren Entwicklung von Booten zu Schiffen wurde schließlich die Meeresoberfläche insgesamt zu einem Ort, wo Menschen sein konnten. Das Unterseeboot erschloss ihnen ab Beginn des 19. Jahrhunderts auch die Welt unter der Wasseroberfläche. Ungefähr zur gleichen Zeit machte der Ballon, später dann das Flugzeug die Atmosphäre betretbar. Die frühen Raketen und Shuttles brachten Menschen zum Mond und in den erdnahen Raum und der Mandelbrotantrieb zu den Planeten und Sternen.

Mit jeder Entwicklungsstufe wurden die Gefährte so verbessert, dass Menschen in Regionen vorstoßen konnten, in denen sie normalerweise nicht existieren konnten. Heutzutage selbst im gigantischen Leerraum zwischen der Milchstrasse und der Andromeda Galaxie. Der Mensch dieser Tage lebte bis zu 4 Millionen Lichtjahre von seinem Ursprungsort entfernt.

Aber 800 Millionen Lichtjahre?

Die Entfernung zwischen Erde und Sonne 50.592.000-mal aneinander gelegt?

Wie immer dieser Ort beschaffen sein mochte, war er sicher noch viel unvorstellbarer, als selbst die erfahrensten und klügsten Kosmologen sich das ausmalen konnten. Und was immer man über diesen Ort annahm war kaum überprüfbar. Trotz hoch entwickelter Beobachtungstechnik, welche die Menschen fast bis zum Big Bang, dem Anbeginn des Universums zurückblicken ließ, waren die wenigen Daten und Bilder, die man von einem solchen Ort erhalten konnte 800 Millionen Jahre alt.

Wie sah es dort heute aus?

Eine Gruppe aus Kosmologen unter Leitung von Janita Landgraf hatte die Aufgabe erhalten aus den vorhandenen Fakten verschiedene Szenarien zu entwerfen und mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu prüfen, was man 800 Millionen Lichtjahre entfernt wohl am ehesten zu erwarten hätte. Im Großen und Ganzen sollte das Universum in 800 Millionen Lichtjahren Entfernung nicht sehr viel anders aussehen, als es hier aussah. Was im Detail natürlich unendlich viele Variationsmöglichkeiten zuließ. Theoretisch war die Aufgabe gar nicht so kompliziert. Man musste einfach nur eine Position in 220 Megaparsec Entfernung bestimmen, von der aus die Reise in die Vergangenheit starten sollte. Dann mussten die Astronomen ran und diese Region beobachten. Das war auch kein Problem, denn die Astronomie stützte sich im 22. Jahrhundert auf eine große Anzahl unterschiedlichster Weltraumteleskope, die an vielen Stellen in der Milchstrasse positioniert waren. Am besten eignete sich das BiGSO (Big Gap Space Observatory) für diese Aufgabe, das auf halber Strecke zwischen der Milchstrasse und Andromeda positioniert war. BiGSO verfügte über vollautomatisierte optische, infrarote, Neutrino-, Röntgen- und Gammastrahlenteleskope. Mit dieser Ausstattung konnte man beliebige Positionen im All so genau beobachten, als sei man dort gewesen. Das behaupteten zumindest seine Erbauer. Hatte man die Zielregion dann genau unter die Lupe genommen und verfügte über entsprechende Datenmengen, musste man einfach nur eine Simulation über 800 Millionen Jahre rechnen und wusste
dann, wie der betreffende Ort heute aussehen würde. Wobei das Wissen einen entscheidenden Haken hatte. Umso kürzer nämlich die Simulationsdauer war, umso größer wurde der Standardfehler in den Berechnungen. Wollte man ein Raum-Zeitschiff auf die Reise schicken, in dem seine Besatzung überleben konnte, so musste es zu mindestens 95% an die Bedingungen am Zielort angepasst sein. Wobei das unter Statistikern eine verdammt mutige Annahme war. Die waren hier aber zum Glück in der Minderzahl. Aus der 95%-Forderung und den Großrechnerkapazitäten, auf die man zurückgreifen konnte, ergab sich die Simulationsdauer.

Und die betrug 3 Jahre und 9 Monate!

Vorher wäre jeder Versuch einer Reise mit zu vielen Risiken behaftet und von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Und das bedeutete, dass Brent Spiner noch fast 4 Jahre Zeit haben würde, dem Herrn Hitler mehr Salz in die Suppe zu streuen, als dieser würde verdauen können.

Gorl, Jeff und Samoka setzten sich derweil mit dem Raum-Zeit Schiff selbst auseinander. Die Bezeichnung „Schiff” stellte sich bereits am Beginn der Überlegungen als ziemliche Übertreibung heraus. Mehr als 25 Tonnen Gesamtmasse war das Maximum, das sich nach ersten Berechnungen in die Vergangenheit transportieren ließ. Wenn sich überhaupt etwas in die Zeit zurück bringen ließe. Denn das stand noch völlig in den Sternen, die es rund um Camp Tschao aber immerhin in beträchtlicher Anzahl gab.

Völlig unverhofft gab noch etwas. Vor der Station stand plötzlich ein ganzes Geschwader Nukleon – Jäger! Die Kampfmaschinen verteilten sich mit äußerster Präzision rund um Camp Tschao und richteten die Abschussöffnungen der MutaRaks auf die Raumstation. Gorl hastete zur Funkkonsole, als sich auch schon eine Meldung von den Polizeischiffen hereinkam. Das Hologramm des Geschwaderführers tauchte auf und schnarrte „Hier spricht Wing-Commander Nicolas-Ber-McEwan von der Talniri – Polizei! Stellen Sie umgehend alle Aktivitäten auf dieser Station ein und begeben Sie sich in einen Versammlungsraum. Wir kommen an Bord!” Fast hätte der Kommandant den wichtigsten Satz vergessen. „Wenn Sie Widerstand leisten, eröffnen wir das Feuer!”, fügte er mit deutlich erhobener Stimme und sichtbarem Vergnügen hinzu. „Was wird uns vorgeworfen?”, fragte Gorl zurück. Die Stimme des Polizeikommandanten schnarrte nach alter britischer Militärtradition „Ihnen wird die Ausführung einer Straftat und die aktive Vorbereitung weiterer Straftaten zur Last gelegt. Ihre Arbeiten stellen eine Bedrohung der Menschheit in besorgniserregenden Umfang dar. Stellen Sie sofort alle Tätigkeiten ein und lassen Sie uns an Bord. Sonst eröffnen wir ohne weitere Warnung das Feuer!”

Gorl sah in die Runde und zuckte die Schultern. Er hatte, wie alles anderen auch, keinen Schimmer, was die dort draußen wollten. „Wir benötigen ungefähr 20 Minuten, um die Station stillzulegen und zu sichern”, funkte er an die Polizeischiffe zurück. „Ich gebe Ihnen 15, dann kracht es”, bellte der Geschwaderführer zurück, „und keine Tricks, klar!” Gorl sah wieder in die Runde, die sich zwischenzeitlich beträchtlich vergrößert hatte. Ratlose Gesichter schauten zurück. Was sollte das? Der Abbruch zum jetzigen Zeitpunkt kam einer Katastrophe gleich. Die Forscher auf Camp Tschao würden jede Minute Beobachtungs- und Rechnerzeit benötigen, wenn sie Spiners Zeitreise rückgängig machen wollten. Bislang waren die theoretischen Grundlagen für ihr Vorhaben nur zu einem kleinen Teil bekannt. Von der praktischen Umsetzung der ersten Ergebnisse war man noch mindestens 3 Jahre entfernt. Was nichts anderes bedeutete, als das Brent Spiner munter weiter den Geschichtsverdreher geben konnte.

Seit dem Auftritt Spiners vor 3 Wochen kam ein Abbruch überhaupt nicht in Frage. Jede Unterbrechung hieß, dass Brent Spiner unter Umständen fundamentale Veränderungen im Zeitablauf verursachen konnte. Noch spürte man in der Realzeit nichts davon. Noch wirkte sich Spiners handeln auch nur auf einen sehr begrenzten Personenkreis und eine sehr überschaubare Zahl von Ereignissen aus. Das würde sich aber schon sehr bald schlagartig ändern. Und nun schwebten dort draußen 26 tödliche Kampfmaschinen herum, deren Kommandant mit völlig diffusen Anschuldigungen verlangte, dass sie einfach aufhörten?

Ein Gesicht unter den Umstehenden blickte weit weniger ratlos drein. Rico Weidmann stand zwischen den verwirrt tuschelnden Wissenschaftlern und grinste. Der Systemanalytiker von der Erde schien irgendetwas zu wissen, was alle anderen nicht wussten. Gorl irritierte das blöde Grinsen des Terraners und er fragte ärgerlich, was Weidmann so lustig fand. Rico Weidmann kam zu ihm und fragte „Nun, wissen Sie, wer die Nukleon – Jäger herstellt?” Gorl zuckte die Schultern. „Nun,” dozierte Weidmann fröhlich, „zufällig baut Rheinmetall – Interspace diese Dinger. Zufällig ist das mein ehemaliger Arbeitgeber und zufällig habe ich den Zentralrechner dieser Kisten entwickelt.” Weidmann machte eine Pause und eine Stimme aus der Menge fragte gedehnt „Und was haben wir davon?” Rico Weidmann machte eine umständliche Handbewegung. „Nun,” begann er wieder. Irgendwie schien er jeden seiner Sätze so zu beginnen. „ein Nukleon – Jäger ist rein theoretisch fähig, ganze Planeten zu verwüsten. Er trägt die vernichtensten Waffen, die Menschen bekannt sind.” Das stimmte, zur Bewaffnung zählten MutaRaks. Wer immer sich diese Dinger ausgedacht hatte, musste gehörig einen an der Waffel haben. Mutant – Raketen verfügten über Sprengköpfe, die durch Veränderungen in der Molekularstruktur auf 48 unterschiedliche Varianten einstellbar waren. Das ging von Betäubungsgas, über verschiedene Splitter- oder Schrapnellvarianten, bis hin zu Caesiumbomben. Und die verdammten Dinger verfügten über Antriebe, die das Geschoss sofort nach dem Abschuss in den Hyperraum brachten und mitten im Ziel wieder in den Normalraum. Vor diesen Dingern gab es keinen Schutz und kein Entkommen. Und da draußen lauerten 26 Jäger mit insgesamt 520 MutaRaks an Bord. Das reichte, um hier jeden Einzelnen in Quarks zu zerlegen.

Und Weidmann stand da und grinste.

„Nun, bei der Konstruktion dieser Schiffe haben wir mit einkalkuliert, dass ein Nukleon – Jäger in falsche Hände geraten könnte. Was, wie man sich vorstellen kann, eine sehr unappetitliche Aussicht ist.”

Die Blicke der Umstehenden wurden zunehmend verständnisloser. Nur Samoka Lee hatte eine Ahnung, worauf Weidmann hinaus wollte. „Es gibt einen Code!”, stellte sie fest. „Nun, das ist wahr, es gibt einen Code, mit dem sich der Zentralcomputer von außen abschalten lässt. Und ich habe ihn entwickelt und eingegeben.”

Gorl schnippte mit den Fingern „Aber Militär und Polizei werden den Code doch sicher geändert haben, oder?” Rico Weidmann nickte, „Nun, das haben sie zwar, aber der Mastercode ist immer wirksam.” Gorl machte einen Schritt zur Seite, damit Rico Weidmann den Sender benutzen konnte. Der trat an die Konsole und griff in die Tasche seiner Bordkombination, aus der er einen Zettel aus Papier hervorkramte. Richtiges Papier! So wie es die Urgroßväter noch verwendet hatten, um Information mit farbigen Stiften darauf zu speichern. Weidmann hielt den Zettel hoch und grinste wieder „Nun, das mag ihnen merkwürdig vorkommen, aber hier ist der Code sicher. Niemanden interessiert es heute mehr, was auf einem Zettel geschrieben steht.” Weidmann ließ den Sender eine Lasertastatur in der Luft vor ihm erstellen und begann eine Reihe von Zahlen und Buchstaben einzutippen. Dann faltete er den Zettel an einer bestimmten Stelle und gab den jetzt noch lesbaren Teil des Codes ein. Anschließend drehte er den Zettel um, tippte 3 Zahlen ein und sagte „Senden an Nukleons Herz”

Wing-Commander Nicolas McEwan sah misstrauisch zu dem riesigen Gebilde hinüber, das vor ihm im All schwebte. Er hätte erwartet, dass die sich dort drüben schnellstens an die Arbeit machten und ihren ganzen Krempel abschalteten. Sein Energiescanner hätte längst das Herunterfahren von Geräten auf der Station registrieren müssen. Zudem müsste auch in den ersten Sektionen das Licht abgestellt worden sein, das jedoch weiter durch die zahlreichen Fenster ins All strahlte.

Irgendetwas stimmte da nicht!

Nicolas wählte den internen Kommunikationskanal seines Geschwaders und rief die Piloten zur Vorsicht auf. Außerdem bereitete er eine MutaRak mit Tränengaseinstellung vor, die er auf den vermeintlichen Zentralteil der verwinkelten Station richtete.

Alle Displays und Kontrolldioden wurden schlagartig dunkel. Die vielstimmige Geräuschkulisse aus surrenden Aggregaten und piependen Kontrollinstrumenten wich übergangslos gespenstischer Stille. Die Schwerkraft setzte aus und der Raumhelm von Nicolas Schutzanzug schloss sich automatisch, während sich die Sauerstoffversorgung für Notfälle zischend aktivierte.

Der Jäger war tot!

Nicolas drückte auf den Feuerknopf, um die Rakete auf die Reise zu schicken, aber nichts geschah. Stattdessen hörte er die überraschten und verunsicherten Stimmen seiner Piloten in seinem Helmfunk. Auch die anderen Jäger meldeten den völligen Ausfall aller Systeme. Das ganze Geschwader schwebte von einem Moment auf den anderen vollkommen bewegungs- und handlungsunfähig vor der Raumstation herum.

Aus den Fenstern der Station betrachtet hatte man den Eindruck, als ob ein paar Sterne zeitgleich ausgegangen waren. So sah es jedenfalls aus, als die Cockpitbeleuchtungen und Positionslampen der Jäger ausfielen. Samoka machte Gorl ein Zeichen, dass sie mit dem Commander dort drüben sprechen wollte. „Commander McEwan? Ich weiß, dass Sie mich in ihrem Helmfunk hören. Hier spricht Samoka Lee vom Forschungsteam auf Camp Tschao. Ich nehme an, Sie werden Verständnis dafür aufbringen, dass wir den Grund ihrer Anwesenheit hier erst einmal mit dem Wissenschaftsrat gegen checken möchten. So lange verzichten wir auf irgendwelche urzeitlich – maskulinen Drohgebärden und haben deshalb auch Ihre Jäger abgeschaltet. Sobald wir Klarheit haben und dann unter Umständen dazu bereit sind, uns von Ihrer Karnevalstruppe hier verhaften zu lassen, schalten wir Ihre Spielzeuge wieder ein.” Samoka machte eine kleine Pause und fügte dann noch beiläufig hinzu „Ach ja, gegen die Raumkrankheit hilft es, einfach die Augen zu schließen. Ich sage das nur, weil Sie unter Umständen eine Weile in der Schwerelosigkeit verweilen müssen. Und Commander, was ich noch sagen wollte: Schicke Jäger!” Der letzte Satz troff vor Spott und Hohn und selbst, wenn Samoka damit direkt auf die Größe von McEwans Geschlechtsteil angespielt hätte, hätte die Wirkung nicht schlimmer sein können. Sie stellte sich vor, was der Typ in seinem Jäger gerade durchmachen musste – und amüsierte sich ganz wunderbar.


19.12.1935, Schloss Czartoryski, Polen

Die Stahlplatte wies ein hübsches, rundes Loch auf. Eine 70 Millimeter starke Platte war glatt durchschlagen worden. Brent stand triumphierend hinter einer recht abenteuerlich anmutenden Konstruktion, aus deren vorderem Ende noch Rauch aufstieg. Die von ihm konstruierte 25 mm Maschinenkanone hatte gerade die stärkste bekannte Panzerplatte glatt durchgestanzt. Brent drehte das Geschütz etwa 10° nach links und ließ es wieder krachen. Diesmal zielte er auf eine wesentlich dünnere Platte, die beim Aufschlag einen deutlichen Ruck machte. Dann ertönte ein infernalisches Pfeifen, gefolgt von Scheppern und Klirren im obersten Stockwerk des Schlosses. Die zweite Platte hatte kein Loch. Das Hohlkerngeschoss war abgeprallt und hatte als Querschläger das Büro von Professor Urbanski in einen deutlich unaufgeräumteren Zustand versetzt. Zum Glück befand sich der Professor gerade in einer Sitzung. Die zweite Platte bestand aus einer Mehrschichtpanzerung aus zwei 15 Millimeter starken Nitrit -Stahlplatten, zwischen denen sich Keramik befand. Energieverzehrend würde man das in 60 Jahren nennen. Die umstehenden Polen applaudierten und liefen zu den Panzerplatten. Diese Kanone konnte jeden Panzer knacken, den die Wehrmacht gegen Polen einsetzen würde. Neben der Maschinenkanone war gestern das erste Rohr für den geplanten Mehrfachraketenwerfer eingetroffen. Fünf Raketen vom Kaliber 110 mm lagen ebenfalls bereit. Die bevorstehenden Tests konnten jedoch nicht hier am Schloss stattfinden, sondern auf einem geheimen Übungsgelände zwischen Łuck (Lemberg) und Równe. Dort war es sicherer. Die Reichweite der Rakete betrug rund 15 Kilometer und die Flugbahn würde weithin sichtbar sein. Da empfahl es sich von selbst, in die einsame Provinz Wolyn auszuweichen.

Das Unternehmen Przyszłość begann richtig zu laufen. Auch politisch entwickelte sich die Sache in die gewünschte Richtung. Während der erzkonservative Außenminister Józef Beck gemeinsam mit den alten Kavalleriegenerälen Franciszek Latiniks und Józef Hallers in alle Welt antideutsche Propaganda hinaus posaunte und nicht müde wurde zu betonen, dass die polnische Armee beim Marsch auf Berlin im Angriff siegen werde, schlug der eingeweihte Kreis um Ignacy Mościcki und Edward Rydz-Śmigły einen anderen Weg ein. Aus ausgesuchten Soldaten, Studenten und Arbeitern wurde die Armija Krajowa gebildet. In der ersten Phase handelte es sich um 800 Mann. Ausgewählt wurden die Teilnehmer nach Ausbildungsstand, körperlicher Fitness und familiären Bindungen. Alle Teilnehmer waren vor ihrer Wahl durch den Geheimdienst überprüft worden. Es kam darauf an, dass die Deutschen keinen Wind von den polnischen Plänen bekamen. Das würde zu einem richtigen Problem werden, wenn die Sollstärke von 75.000 Soldaten erreicht wurde.

Brent folgte Professor Urbanski in dessen verwüstetes Büro. Der alte Herr stieg über die Trümmer seines Schreibtisches hinweg, drehte sich um und strahlte Brent fröhlich an. „Ein Querschläger!“ rief er begeistert und hielt ein übel zugerichtetes Bildnis von Kopernikus in die Luft, das vor dem Einschlag der Granate an der Rückwand des Raumes gehangen hatte. „Ein Querschläger!“ wiederholte er und blickte kopfschüttelnd auf eine Blechtasse, in der ein daumennagelgroßer Splitter von Brent’s Granate steckte. Der wollte sich gerade für das Missgeschick entschuldigen, als Urbanski ihm auf die Schulter schlug. „Ist das nicht wunderbar, junger Freund? Für so eine Verwüstung brauchten wir gestern noch mindestens einen Volltreffer mit einer 90 Millimeter Schrapnelle! Herrlich, herrlich, herrlich. Wundern wird er sich, der Herr Gefreite aus Braunau.“

Der alte Professor war mit seiner Begeisterung nicht allein. Alle, die den Test der neuen Kanone mitverfolgt hatten, befanden sich in einer ähnlichen Stimmungslage. Bislang war das ganze Projekt eine rein theoretische Angelegtheit gewesen. Der erste praktische Erfolg machte allen klar, dass man der Wehrmacht tatsächlich die Stirn bieten konnte.

18.10.2169, Ministerium für Katastrophenschutz, First Village, Planet Mars

Anta-kal-Tep stand vor einer ganzen Flut von Problemen. Zwei davon ordnete sie augenblicklich allerdings als vernichtend ein: Das übergangene Parlament des Galaktischen Bundes, das sie über den Einsatz der Nukleon – Jäger hätte informieren müssen, würde sie gleich auseinander nehmen. Nicht viel besser sah es mit dem Wissenschaftsrat aus, der zweifelfrei belegen konnte, dass von den Arbeiten auf Camp Tschao keine unmittelbare Gefahr in dem von der ihr angenommenen Ausmaß ausging.

Dagegen war die öffentliche Blamage, dass die Eierköpfe auf der Raumstation die modernsten und tödlichsten Kampfmaschinen der Galaxis einfach abgeschaltet hatten, beinahe belustigend. Jeder Newschannel zerriss sich inzwischen sein virtuelles Maul darüber. Die ganze Sache ging dermaßen nach hinten los. Anstatt die verdammte Hyperfunk- und Zeitforscherei zu stoppen, erhielten die Eierköpfe vom Parlament jetzt zusätzliche Mittel und Leute, um ihren Unsinn schnellstmöglich zu einem Erfolg zu bringen. Anta-kal-Tep hatte genau das nicht gewollt. Sie war nach wie vor davon überzeugt, dass Hyperfunk eher eine Bedrohung, denn ein Segen war.

Die energische Frau aus Kreschlapur auf dem Planeten Trombur war erledigt. Bei ihrem Versuch, die Menschheit zu schützen, war sie so weit übers Ziel hinaus geschossen, dass es für zehn Rücktritte reichte. Den ersten würde sie gleich vor dem Parlament erklären müssen.

19.10.2169, Raumstation Camp Tschao

Die Nukleon – Jäger verschwanden gerade im Hyperraum. Nachdem das Parlarment den Einsatz offiziell gestoppt hatte, flogen die „Switched-off Supermen”, wie das Geschwader von den Medien genannt wurde wieder ab. Samoka würde niemals den Blick dieses Commander Mc Ewan vergessen, als sie den Kerl nach 9 Stunden Schwerelosigkeit an Bord der Station geholt hatten. Sie hatte sich zwar bei der Begrüßung mehr als bemüht, kein zusätzliches Öl ins Feuer zu gießen, aber das brannte auch so schon sonnenhell. McEwan hasste sie und wenn er gekonnt hätte, würde sie jetzt als Nanopulver im Weltall schweben.

Nun, die verhinderten Helden waren weg und die Zeit drängte. Das Beobachtungsprogramm für den Raumsektor, von wo aus die Zeitreise starten sollte, musste überprüft und ergänzt werden. Die Gruppe, die sich um das Raum-Zeitschiff kümmerte, hatte erste Entwürfe und jede Menge Ideen. Und es war an der Zeit, sich mal wieder mit Brent Spiner zu unterhalten.

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